Mittelalter auf Schritt und Tritt
5. Februar 2002Himmel hohe Türme, Fassaden mit gotischem Backsteinmaßwerk, altniederländische Malerei in Museen und Kirchen: Auf Schritt und Tritt begegnen uns Zeugnisse einer Epoche, in der Brügge der bedeutendste Handelsplatz nördlich der Alpen, die drittgrößte Stadt Europas mit über 40.000 Einwohnern war - doppelt so viel wie heute in der historischen Innenstadt leben. Im 14. Jahrhundert wurden hier Wolle aus England, Pelze aus Nowgorod, Gewürze aus Italien, Wein aus Frankreich, Bier aus den deutschen Hansestädten, aber auch Gobelins und Tuche aus Flandern gehandelt.
Giebelhäuser statt Industrie
Als der Zwin genannte Meeresarm verlandete und Antwerpen die Nachfolge der uralten Handelsmetropole antrat, geriet Brügge in Vergessenheit. Während im 19. Jahrhundert in anderen europäischen Großstädten Fabriken aus dem Boden gestampft wurden, dämmerte Brügge in einem wirtschaftlichen Dornröschenschlaf dahin. Die industrielle Revolution ging an der Stadt nahezu spurlos vorbei. Heute erscheinen die über 2000 Denkmal geschützten Giebelhäuser im warm tönigen Backstein des Landes, die imposanten Kirchen, die noblen Patrizierhäuser und Stadtpaläste und nicht zuletzt die romantischen Grachten wie ein Traum vom Mittelalter, das in jeder Gasse, an jeder Straßenecke erfahrbar ist. Brügge bietet seinen jährlich mehr als fünf Millionen Besuchern ein bezauberndes Ensemble bürgerlicher Baukunst, ein einzigartig geschlossenes Bild einer hochmittelalterlichen Kaufmannsstadt. Bei einer Rundfahrt durch die von malerischen Brücken überwölbten "reien" genannten Kanäle, unter herab hängenden Weiden hindurch, öffnet sich der Blick auf eine fast venezianisch anmutende Häuserkulisse.
Belfried erlaubt atemberaubenden Blick
In diesem von Jacques Brel besungenen "platte land" ragen drei Türme in den Himmel: der wuchtige Backsteinturm der St. Salvator-Kathedrale, der monumental auffahrende Turm der Liebfrauenkirche und - wie könnte es in einer flandrischen Stadt anders sein - der trotzige Belfried. Hat man die 366 Stufen des 85 Meter hohen, achteckigen Belfrieds erklommen, eröffnet sich der Blick auf ein überwältigendes Urbild einer mittelalterlichen Stadt. 122 Meter hoch ragt der Turm der Liebfrauenkirche in den Himmel.
Der Grote Markt mit Belfried und Hallen, dem prachtvollen Sitz der Provinzialverwaltung, den Zunfthäusern und den gemütlichen Terrassencafés ist wie die gute Stube der Stadt. Der Marktplatz bot einst den Rahmen für die verschwenderischen Feste und Turniere während der Burgunderzeit.
Bedeutende Museen
Bedeutende Museen vermitteln ein umfassendes Bild von dem hohen künstlerischen Niveau, das Brügge in der Burgunder- und Habsburgerzeit zum kulturellen Zentrum Flanderns machte. Im ehemaligen Sint-Jansspital aus dem 13. Jahrhundert mit einer aus dem Jahre 1643 erhaltenen Apotheke befindet sich das Memling-Museum. Der "duytsche Hans", wie der aus dem hessischen Seligenstadt stammende Hans Memling genannt wurde, hatte bis zu seinem Tod 1494 Porträts und Altarbilder für das Brügger Bürgertum gemalt. Der feinfühlige Maler, der als "flämischer Fra Angelico" in die Kunstgeschichte einging, hatte wahrscheinlich in der Werkstatt des Rogier van der Weyden gelernt und blieb in seiner Malweise dieser Tradition treu. Sein kostbarer, miniaturenhaft bemalter Ursulaschrein, in filigraner mittelalterlicher Goldschmiedetechnik geschaffen, ist im Sint-Jansspital zu bewundern.
In einem der besterhaltenen Adelshöfe Flanderns zeugt das Gruuthuse-Museum mit Wandteppichen, Brügger Spitze, Tafelsilber und Zinn vom opulenten Luxus, mit dem die Reichen der Stadt sich im Spätmittelalter das Leben versüßten. Der Kaufmann Gruuthuse hatte mit "Gruut", einem Ersatzmittel für Hopfen, Reichtum erlangt. Damals gab es in Brügge über dreißig Brauereien. Heute sind in den Kneipen der Stadt über 300 Biersorten im Angebot.
Das benachbarte Groeninge-Museum beherbergt Werke der großen Meister der altniederländischen Malerei, der so genannten Flämischen Primitiven Jan van Eyck, Petrus Christus, Hugo van der Goes, Gerard David, Hans Memling, die hier die eindringlichen, mit großer Detailfreude gemalten Bilder einer stillen, idealen Welt schufen, deren Leuchtkraft sich erstaunlich gut erhalten hat.
Geschichte und Gegenwart
In diesem Jahr darf Brügge also, neben Salamanca, den begehrten Titel "Kulturhauptstadt Europas" tragen. Es entstand ein modernes Konzerthaus. Das Stadttheater und die Liebfrauenkirche wurden ebenso restauriert wie zahlreiche Fassaden, Giebel und Dächer.
Die Kulturhauptstadt Brügge schöpft natürlich in diesem Jahr ihr historisches Potenzial aus, will sich aber auch als Stadt der Gegenwartskunst profilieren. Der japanische Architekt Toyo Ito hat mitten im historischen Zentrum der Stadt einen avantgardistischen Pavillon gebaut. Der Schweizer Jürg Conzett entwarf für den Kanal Coupure eine moderne Brücke, die den Wanderweg entlang der mittelalterlichen Umwallung schließt. Es wird Kunst an den ausgefallensten Orten geben: in Parkhäusern, an Tankstellen, im Bahnhof oder im Fußballstadion. Eine Ausstellung wird sich den ökonomischen Höhepunkten Brügges, dem Ursprung und der Zukunft des europäischen Handels widmen. In der alten Abtei Ter Doest werden mittelalterliche Handschriften zusammen mit zeitgenössischen Kunstwerken präsentiert. Highlight wird die Übersichtsschau "Jan van Eyck, die altniederländische Malerei und der Süden" sein. Gerd Schmitz/(pg)