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Zeugenaussage 2.0

Klaus Jansen20. April 2013

Die Bomben von Boston explodierten vor Hunderten Zeugen. Viele haben den Anschlag auch mit ihren Smartphones gefilmt. Das hat geholfen, die Täter zu identifizieren, aber auch, die Schreckensbilder zu verbreiten.

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Smartphones
Smartphones: auch die Entwarnung der Polizei kam per TwitterBild: picture alliance/AFP Creative

Nur wenig Zeit war nach dem Anschlag in Boston vergangen, da startete die Polizei schon einen Aufruf: Jeder, der am Tatort Fotos oder Videos gemacht hatte, sollte bei der Fahndung mithelfen. "Es ist eine Verschärfung der klassischen Zeugenaussage", so der Kölner Medienwissenschaftler Dietrich Leder im Gespräch mit DW. Die Identität der mutmaßlichen Bombenleger in Boston konnte auch mithilfe von Smartphone-Bildern und -Videos relativ schnell geklärt werden, innerhalb weniger Tage.

Die Bilder haben einen klaren Vorteil, denn normale Zeugenaussagen sind oft unzuverlässig. Täterbeschreibungen sind häufig ungenau, Zeugen werfen nicht selten Zeitabläufe durcheinander oder erinnern sich schlicht falsch. Ermittlern der Polizei ist dieses Phänomen bestens bekannt. Die Tatsache, dass viele Menschen bei größeren Ereignissen einfach die Kamera ihres Handys einschalten, kann dagegen für die Ermittlungen äußerst wichtig sein.

Fahndungserfolg dank Smartphone & Co.

Auch in Boston war das der Fall. Ein Foto, das maßgeblich zum Fahndungserfolg beitrug, war eine Aufnahme vom Tatort kurz nach der Explosion. Darauf ist einer der beiden Tatverdächtigen mit einer Baseball-Kappe in einer Menge fliehender Menschen zu sehen. Ein Zuschauer hatte das Bild mit seinem Smartphone aufgenommen und online gestellt. Kurz darauf kontaktierte ihn die Bundespolizei FBI. Die Ermittlungen wurden so beschleunigt.

Ein Smartphone-Foto, dass bei der Fahndung half (Foto: David Green)
Ein Ausschnitt des Fotos, das das FBI auf die Spur der Täter brachteBild: picture alliance / ZUMAPRESS

Am Tatort waren zwar auch viele Überwachungskameras installiert, die meisten davon an Geschäften oder privaten Häusern. Das Problem: Sie liefern oft nur schlechte Bilder. "Das liegt nicht an der Optik", erklärt ARD-Terrorismusexperte Paul Elmar Jöris. "Man braucht einfach viel Speicherplatz, wenn man über ein oder zwei Tage ständig aufnimmt." Deshalb werde oft eine niedrige, Speicherplatz-schonende Datenrate gewählt. "Bilder von Handys oder Fotoapparaten haben dagegen eine wesentlich bessere Qualität."

Weitere technische Entwicklungen haben den Fahndern dann bei der Sichtung der unzähligen Bilder geholfen. "Man hat mit Bilderkennungs-Software gearbeitet", so Dietrich Leder. Dadurch können Gesichter von Computern automatisch überprüft werden. "Das ist erst heutzutage möglich. Vor ein paar Jahren wäre das unglaublich schwer gewesen." Wenn man weiß, wanach man suchen muss, sei das eine große Hilfe, meint Leder. "Sonst ist es aberwitzig, man hätte eine Datenmenge, die nicht mehr zu bearbeiten ist."

Sind zu viele Kameras gefährlich?

Smartphones, Überwachungskameras und TV-Bilder können bei der Aufklärung einer solchen Straftat also eine große Hilfe sein. Womöglich sind sie aber auch Teil des Problems, denn Terroristen suchen ja gezielt die Öffentlichkeit. Sie wollen, dass ihre Taten gefilmt und von möglichst vielen gesehen werden. Sind zu viele Kameras also gefährlich?

Medienwissenschaftler Dietrich Leder (Foto: Erwin Elsner)
Medienwissenschaftler Dietrich LederBild: picture alliance/Erwin Elsner

"Ereignisse mit hoher Medienpräsenz üben für Terroristen eine gewisse Anziehungskraft aus", so Terrorismusexperte Paul Elmar Jöris im Gespräch mit der Deutschen Welle. Auch Rolf Tophoven, der Leiter des Instituts für Krisenprävention (IFTUS) in Essen, glaubt, dass "Terroristen immer so viel Öffentlichkeit wie möglich" im Sinn haben. Die Experten gehen aber nicht davon aus, dass Terroristen ihren Tatort wählen, weil dort Überwachungskamera sind oder gerade viele Menschen private Aufnahmen machen.

"Attentäter suchen nicht die Überwachungskamera, sondern sie suchen direkt Medien, um sofort weltweit auf den Bildschirmen zu sein", meint Paul Elmar Jöris. Im Fall von Boston sei das aber anders gewesen, ist Medienwissenschaftler Dietrich Leder überzeugt. "Die Explosionen kamen mehrere Stunden, nachdem die Spitzenläufer fertig waren. Die Massenaufmerksamkeit war da schon weg, es blieb nur noch die private Aufmerksamkeit." Womöglich sei es den Tätern nur darum gegangen, möglichst viele Menschen zu töten. Der Boston Marathon sei einfach ein leichtes Ziel gewesen. Und Terrorismusexperte Tophoven ergänzt: "Der Anschlag an sich ist schon die Botschaft."

Verbrecherjagd per Twitter und Facebook

Über die genauen Motive und Strategien der Täter kann weiterhin nur spekuliert werden. Fest steht für Dietrich Leder aber, dass "die neue Öffentlichkeit geholfen hat, die Täter dingfest zu machen." Damit meint er die Möglichkeiten der neuen Medien, den kombinierten Einsatz von Smartphones, Twitter- und Facebook-Meldungen und Diskussionsforen im Internet. Die Bostoner Polizei war in den Sozialen Medien aktiv und postete auf Twitter zum Beispiel die Nachricht: "Captured!!!" - Der Täter ist gefangen.

Die Tweets der Bostoner Polizei (Foto: Screenshot Twitter)
Die Tweets der Bostoner PolizeiBild: Twitter

Sogar Hobby-Ermittler machten mit: Auf der Diskussionsplattform "Reddit" zum Beispiel suchten sie gemeinsam nach den Tätern und gingen eigenen Spuren nach. Die privaten Ermittlungen gingen teilweise so weit, dass Unschuldige, die nur in etwa so aussahen wie die Verdächtigen, bedroht wurden. "Da wird es dann gefährlich", warnt Medienexperte Dietrich Leder. "Dann stehen wir vor einer Art digitaler Lynchjustiz, die auch wieder ganz schwer zu stoppen ist."

So wie die Technik dabei helfen kann, Straftaten aufzuklären, kann sie auch dazu genutzt werden, Straftaten zu begehen, unterstreicht Rolf Tophoven vom Institut für Krisenprävention: "Das Internet ist die Universität des Dschihad und des Terrorismus. Da finden sie alles, was sie für eine Bombenkonstruktion brauchen." Auch für die Sprengsätze von Boston sind entsprechende Bauanleitungen online.