EU entdeckt soziale Ader
2. Oktober 2013Es wird bereits heute viel gemessen, bewertet und koordiniert in Brüssel. Die 28 Mitgliedsstaaten legen der Europäischen Kommission ihre wirtschaftspolitischen Entscheidungen und ihre nationalen Haushaltentwürfe zur Begutachtung vor. Die Kommission gibt Empfehlungen für bessere Politikansätze ab. Die 17 Staaten, die den Euro als Währung haben, können einem Defizitverfahren unterworfen werden, falls sie dauerhaft die Kriterien für Neuverschuldung oder Gesamtverschuldung nicht einhalten.
Daneben gibt es eine Vielzahl von Prognosen über die Wirtschaftsentwicklung, Statistiken über Arbeitslosenzahlen und alle drei Monate einen dicken Bericht über die soziale Lage in der Union. Entscheidungen treffen aber in sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen die Regierungen und Parlamente der Mitgliedsstaaten alleine. Das machte der zuständige Sozial-Kommissar der EU, László Andor, klar, der in Brüssel vorschlug, eine weitere Statistik einzuführen. "Wir schlagen vor, die sozialen Unterschiede in der EU mit einem speziellen Zeugnis zu bewerten, das negative Entwicklungen hervorheben würde. Da geht es um die generelle Arbeitslosigkeit, die Jugendarbeitslosigkeit, das Armutsrisiko für Arbeitnehmer, Einkommensunterschiede zwischen den reichsten 20 Prozent und den ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung und natürlich das wirklich verfügbare Einkommen von Haushalten." Dieses Sozial-Zeugnis soll die Folgen der Spar- und Konsolidierungspolitik vor allem in den Krisenländern in Südeuropa deutlich machen.
Neue Bewertung ohne Folgen?
Wie diese Missstände nach der 'Zeugnisvergabe' bekämpft werden sollen, verriet Andor nicht. Es soll weder zusätzliches Geld für die Förderung des Arbeitsmarktes ausgegeben werden noch sollen die Länder, die ein schlechtes Zeugnis bekommen, bestraft werden. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso versuchte dennoch, den Nutzen des Vorschlags klar zu machen. "Das ist, glaube ich, sehr wichtig, weil es zeigt, dass wir uns der sozialen Fragen wirklich verbunden fühlen. Wir wollen dadurch unsere wirtschaftspolitische Steuerung besser verzahnen."
Vor allem kommt die EU-Kommission damit einem Auftrag nach, den die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen im Juni erteilt hatten: Über die "Soziale Dimension" der Wirtschafts- und Währungsunion solle stärker nachgedacht und beraten werden. Barroso kündigte an, dass die EU-Kommission künftig auch auf bestimmte Gesetzesvorhaben verzichten wolle, um der Wirtschaft nicht noch mehr bürokratischen Ballast aufzubürden. "Es wird leichter, einfacher und billiger. In Europa müssen wir uns auf das konzentrieren, was wirklich einen zusätzlichen Nutzen bringt. Wir brauchen in vielen Bereichen europäische Gesetze, aber es gibt viele Bereiche, die man besser national oder regional regeln kann", sagte Barroso zu Reportern in Brüssel.
Zweifel am Rettungskurs
Der Chef der EU-Verwaltung macht sich schon seit längerem Sorgen darüber, dass die EU bei vielen der 500 Millionen Einwohner nur noch als unsoziales, bürokratisches Monstrum gesehen wird, das unbedingt einen strikten Sparkurs durchsetzen wolle. Eine frische Meinungsumfrage stützt Barrosos Befürchtungen. Laut dem Meinungsforschungsinstitut Gallup lehnt inzwischen eine Mehrheit der Bevölkerung in Europa (51 Prozent) den Sparkurs ab, den die Geberstaaten den Krisenländern auferlegt haben. Nur fünf Prozent der Befragten sahen positive Ergebnisse. Nicht weiter verwunderlich lehnen 94 Prozent der Griechen die Rettungspolitik für das Land in seiner heutigen Form ab. Der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, widersprach in Paris aber dieser Meinung. Die Euro-Zone, so Draghi, erhole sich langsam. Die Zentralbank wolle ihren Kurs deshalb fortsetzen.
Soziale Themen werden wichtiger
Seit einigen Wochen würden viele Spitzenvertreter der Europäischen Union immer mehr soziale Probleme wie Arbeitslosigkeit und Armutsrisiken ansprechen, hat die linke Europa-Abgeordnete Gabi Zimmer beobachtet. Zimmer sagte in Brüssel, José Barroso und László Andor seien auf dem richtigen Weg, aber gingen natürlich nicht weit genug. "Solange Menschen um das nackte Überleben kämpfen müssen, ist es absurd über die Rückzahlung von Schulden zu diskutieren. Wenn nicht Bedingungen geschaffen werden, dass Menschen in Würde leben können - und dafür trägt die Europäische Union Verantwortung - kann man erst gar nicht über Schulden diskutieren", sagte Gabi Zimmer, Vorsitzende der Mini-Fraktion "Vereinigte Linke" im Europäischen Parlament mit Blick auf die Lage in Griechenland. Dort hat sich, trotz erster Reformansätze und einer drastischen Sparpolitik, für die jugendlichen Arbeitslosen wenig verbessert. Das Statistische Amt der EU, Eurostat, teilte am Dienstag mit, dass die Arbeitslosigkeit der unter 25 Jahre alten Europäer genauso hoch ist wie vor einem Jahr. In Griechenland liegt sie bei 61,5 Prozent, in Spanien bei 56 Prozent.
Griechische Linke fordert Ende der "Barbarei"
Der Chef der größten Oppositionspartei in Griechenland, der linksradialen Syriza-Bewegung, Alexis Tsipras, war in Brüssel zu politischen Gesprächen unterwegs, als die EU-Kommission ihre neusten Pläne vorstellte. Tsipras plädiert für radikale Kehrtwenden. Die neo-liberale Sparpolitik müsse endlich beendet werden, weil sie keine Ergebnisse habe und zu "barbarischen" Bedingungen in Griechenland führe. Sein Land brauche Investionsprogramme, einen Marschallplan und am Ende eine internationale Schuldenkonferenz. Nach den Wahlen in Deutschland, so Tsipras weiter, müsse der Stillstand in Europa enden. "Die Wahrheit muss auf den Tisch", forderte er.
Wie schlimm die Lage im sechsten Jahr der Rezession in Griechenland sei, das wisse man auch ohne neue Zeugnisse von László Andor, hieß es aus der griechischen Delegation von Alexis Tsipras. Was er nun aber konkret von Bundeskanzlerin Angela Merkel und anderen europäischen Staats- und Regierungschefs fordert, ließ der griechische Oppositionsführer offen. Bei möglichen Neuwahlen in Griechenland könnte Tsipras Ministerpräsident des Landes werden und selbst in den erlauchten Klub der EU-Elefanten aufsteigen. Er könnte auch als Spitzenkandidat der linken Parteien bei den Europawahlen im Mai 2014 antreten und für den Posten des EU-Kommissionspräsidenten kandidieren.
Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz von den deutschen Sozialdemokraten, möchte auch gerne EU-Kommissionspräsident werden. Er kritisierte die Vorschläge von Sozial-Kommissar Andor als zu wenig ehrgeizig und als "längst überfällig". Schulz sprach sich dafür aus, ein Viertel aller bisherigen Strukturfonds der EU künftig in soziale Projekte zu stecken.