"Ich identifiziere mich stark mit dieser Kultur"
2. Dezember 2012Kurz vor elf auf dem Skopusberg, über den Dächern Jerusalems. Die Sonne brennt auf den Tennisplatz am Uni-Campus herab, wo wir mit Moshe Zimmermann verabredet sind. Oft spielt er hier selbst, heute fällt der Sport aus. Er kommt im VW angefahren, begrüßt uns in Laufschuhen und Polohemd. Und fragt gleich, ob ich seinen Lieblingsverein kenne: Neben Tennis ist Fußball seine große Leidenschaft. "Sie wüssten es, wenn Sie sich mein Auto genau angeschaut hätten", sagt er. Habe ich natürlich nicht. Da fällt mein Blick auf seinen Arm: ein Schweißband mit schwarz-weißen Vierecken auf blauem Grund. Ein israelischer Verein? "Makkabi irgendwas?" murmele ich. "Makkabi Hamburg?", zieht er mich auf und lacht, "HSV", ruft die Kollegin. Treffer.
Ein israelischer Geschichts-Professor als VW-Fahrer und Fan des Hamburger Sport-Vereins? Ich weiß, dass seine Eltern aus Hamburg stammten, sie mussten vor der nationalsozialistischen Verfolgung nach Palästina fliehen. Kann man da an deutschen Fußballern und Autos hängen? Wenig später führt uns Moshe Zimmermann durch die labyrinthischen Gänge der Hebräischen Universität in sein Büro. Als seine Eltern ankamen, war die Uni, 1925 gegründet, noch die einzige im Land. Bald stellten deutschsprachige Wissenschaftler, die dem Hitlerreich entkommen waren, rund zwei Drittel aller Professoren. Und prägten das akademische Leben.
Ende eines Lebenstraums
Das galt auch für das Fach Medizin und die Uniklinik, das Hadassah-Krankenhaus, in dem Moshe Zimmermann 1943 geboren wurde. Seine Mutter arbeitete dort als Laborantin. "Ich habe gerade vor zwei Wochen Dokumente meiner Mutter gefunden. Darin habe ich gesehen, dass sie auf ihre Karriere als Ärztin verzichten musste." Als überragende Schülerin hatte sie zwei Klassen übersprungen. Doch dann durfte sie in Nazi-Deutschland nicht studieren: Eine Beleidigung, sagt Zimmermann. Und Ende eines Lebenstraums. Gesprochen hat sie darüber nie.
Karriere konnte wenigstens er selbst machen. Seit 1986 leitet er das Richard-Koebner-Institut für Deutsche Geschichte der Hebräischen Universität - benannt nach dem deutschen Historiker, der als Jude 1934 vor den Nationalsozialisten geflohen war: "Koebner war eine signifikante und symptomatische Figur, ein völlig assimilierter Jude", erklärt Zimmermann. Ohne Hitler hätte er in Breslau, wo er lehrte, Karriere gemacht. In Jerusalem wurde er zum Begründer der Geschichtswissenschaft. "Was wir hier als Geschichte verstehen, beruht auf den deutschen Wurzeln, bis heute", sagt Zimmermann - und spricht sogar von einer "deutschen Uni", die damals hier entstanden sei: "Das ist eine klare Sache! Es gab zwar auch angelsächsische Fundamente, aber im Zentrum steht Mitteleuropa. Das ist eine Fortsetzung Deutschlands hier in Palästina."
Historische Friedenschancen verpasst
Und er erzählt, welche Mengen an deutschsprachiger Korrespondenz aus der Uni-Geschichte er gefunden hat. Seine eigene Muttersprache ist Hebräisch, die Eltern hatten sich dafür entschieden. Doch heute verfasst er etliche seiner Bücher auf Deutsch. Nicht nur, weil er viel über deutsch-jüdische Geschichte arbeitet. Sondern weil er auch für ein deutsches Publikum schreibt. Etwa sein Buch "Die Angst vor dem Frieden" - ein kritischer Blick auf die israelische Gesellschaft von heute, die sich, so die These, lieber im konfliktreichen Status quo eingerichtet habe als sich auf einen Frieden einzulassen.
Eigentlich sind wir zusammengekommen, um über deutsch-jüdische Geschichte zu sprechen, weniger über die aktuelle Nahost-Politik. Aber es gibt Zusammenhänge. "Als Historiker sage ich: Die Zionisten haben in den 1930er Jahren mehrere Chancen verpasst, weil man die arabische Seite ignorierte. Man dachte, wir sind Europäer im wilden Osten, wir haben das absolute Recht, die anderen sind 'primitiv'." Damals, so Zimmermann, hätte es die Möglichkeit zum Frieden gegeben. "Auch die andere Seite war ziemlich blind. Aber man hätte sich damals mehr auf einen Kompromiss einstellen sollen. Das hat man nicht getan, darum wurde die Kluft zwischen Juden und Arabern immer tiefer."
Sanfter Nationalismus
Deutschsprachige Juden seien damals oft kompromissbereiter gewesen als andere. "Man darf das nicht pauschalisieren. Aber man kann sagen, dass es unter ihnen eine Tendenz gab, eher eine sanfte statt einer militanten Art von Nationalismus zu entwickeln. Denn sie kamen aus der Erfahrung des deutschen und mitteleuropäischen Nationalismus."
Als sie 1942 eine eigene Partei gründeten, plädierte diese zunächst für eine Zwei-Staaten-Lösung, wie sie schon die Briten für ihr damaliges Mandatsgebiet Palästina vorgeschlagen hatten: "Man wusste, dass die arabische Bevölkerung in der Mehrheit war, da wollte man nicht eine Minderheit in einem Nationalstaat der Anderen sein. Damit hatte man schlechte Erfahrungen gemacht." Doch der Partei war ein kurzes Leben beschieden: es währte bis 1948 – dem Jahr der Staatsgründung Israels. "Mit der Zeit haben die Jeckes politisch immer weiter verloren. Politisch bedeuten sie nur eine Art von Gedanken-Anregung – bis heute.“
Deutsch und jüdisch: eng verbunden
Zimmermanns eigene Anregungen werden mitunter in Deutschland eher gehört als in Israel. Ohnehin hat er ein erstaunliches Verhältnis zur Bundesrepublik. "Am besten nehme ich das Beispiel Fußball. Ich bin Fan der deutschen Fußballmannschaft, ich bin Fan des HSV, es gibt keine Mannschaft in Israel, für die ich so stehe, obwohl ich weiß, welche Vergangenheit der HSV hatte mit einem sehr bekannten Nazi-Mittelstürmer."
Und, so darf man wohl sagen, obwohl seine Eltern ihr Land verlassen mussten, um zu überleben - das Land der nationalsozialistischen Täter, aber auch das Land vieler Opfer, wie er als Historiker betont. Sein Buch "Deutsche gegen Deutsche" spricht davon, wie eng "deutsch" und "jüdisch" sein miteinander verwoben waren.
Rote Grütze und Labskaus
"Ich bin sehr stark mit dieser Kultur identifiziert. Ich weiß viel mehr über Hamburg als die meisten Leute, die ich dort antreffe. Ich esse Rote Grütze, ich esse Labskaus [norddeutsche Spezialitäten, d.Red.], ich genieße die Umgebung mit Elbe und Alster. Aber ich spüre immer am Rande, dass ich nicht so dorthin gehöre, wie ich zu Israel gehöre. Problematisch ist dabei, dass ich mit der Zeit in Israel immer fremder werde. Nicht nur weil mein Akzent im Hebräischen plötzlich deutsch klingt, sondern weil meine Einstellung mindestens auf Missverständnisse stößt."
Und dann zeigt er uns noch das Krankenhaus, in dem seine Mutter gearbeitet und ihn zur Welt gebracht hat. Und einen Imbiss, wo man gut Falafel essen kann. Ob er sich vorstellen kann, in Deutschland zu leben? "Ich habe mir das ernsthaft sehr früh überlegt. Als ich in Hamburg meine Doktorarbeit geschrieben habe, hätte ich dort weiterarbeiten können, habe mich aber für die Rückkehr nach Israel entschieden, zumal es für meine Frau und mein Kind die Heimat war. Heute kann ich mir sehr gut vorstellen, länger als nur für ein paar Wochen oder Monate hinzuziehen." Am nächsten Tag fliegt er erst einmal nach Berlin.