Die Renaissance der Nachtzüge
2. September 2022Während der Nachtzug gleichmäßig über die Schienen rattert, entgleite ich ins Reich der Träume. Bayern, Österreich, die Alpen, alles zieht vorüber. Am nächsten Morgen werde ich durch ein sanftes Klopfen an die Abteiltür und ein freundliches "Dobro jutro" geweckt - Passkontrolle an der slowenisch-kroatischen Grenze. Im Anschluss serviert der Schaffner dicken, schwarzen Kaffee im Pappbecher. Um neun Uhr morgens habe ich mein erstes Ziel erreicht und stehe in der kroatischen Metropole Zagreb am Hauptbahnhof. Reisezeit knapp 15 Stunden, davon mindestens sechs schlafend. Die Strecke Berlin-München musste ich allerdings im ICE zurücklegen. Im europäischen Nachtzugnetz ist Kroatien von Deutschland aus nur ab München, im Kurswagen, zu erreichen, das hat vielfältige Gründe.
Vom Ende des DB Nachtzuges zur Kooperation
Wir springen zurück ins Jahr 2016, damals gingen die Deutsche Bahn (DB) und ihre Nachtzugsparte City Night Line getrennte Wege. Die neun Jahre währende Beziehung fiel dem Argument der wirtschaftlichen Rentabilität zum Opfer. Der City Night Line fuhr, nach DB Angaben, Verluste von mehr als 30 Millionen Euro jährlich ein.
Das Nachtzuggeschäft sei aufwändig und teuer, von der Garnitur über Wartung und die speziellen Werke und bis zu eigens dafür geschulten Mitarbeiter:innen, so eine DB Sprecherin. Gänzlich ausgestiegen aus dem Nachtzuggeschäft sei man dennoch nicht. Das Nachtzugnetz betreibt die DB jetzt in Kooperation mit europäischen Partnern, aber ohne eigene Wagen.
Die ÖBB machten's vor
Die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) zeigen, dass das Nachtzuggeschäft kein Nischendasein fristen muss, sondern laufen kann. 2016 übernahm die Bahngesellschaft des Nachbarlandes Teile der Nachtzuglinie der DB. Die Fahrgastzahlen steigen seitdem jedes Jahr. Ausnahme – natürlich - 2020, das Corona-Pandemie-Jahr. Die Herausforderungen beim Nachtverkehr kennen auch die ÖBB. Sprecher Bernhard Rieder drückt es so aus: "Klar ist, dass man mit dem Nachtzuggeschäft an sich nicht reich werden kann. Die Kosten von 'Hotelbetrieb' und Reise in einem Produkt liegen deutlich über der Kostenstruktur von Tagesverbindungen mit der Bahn."
Besonders stolz ist man deswegen auf die positive Bilanz 2019. Über fehlende Buchungen können sich die Österreicher nicht beklagen, die Züge seien bis in den Herbst hinein ausgebucht, so der ÖBB-Sprecher. Das Ziel: langfristig drei Millionen Reisende. Dafür sind aktuell 33 komplett neue Züge in Produktion.
Trend oder Mobilitätswende?
Die Zahlen der ÖBB zeigen: Immer mehr Menschen wollen den Nachtzug nutzen. Kann man nun aber von Trend, Boom oder dem Anfang einer echten Mobilitätswende sprechen? Ich frage den Mobilitätsexperten Bernhard Knierim. Steigende Nachfrage, der Ausbau des Nachtzugnetzes und ein Stopp bei der Einstellung relevanter Nachtzugstrecken - all das deutet er als Trend. "Für einen Boom oder gar den Beginn einer echten Mobilitätswende ist das aber noch viel zu wenig", sagt Knierim. "Dafür bräuchten wir erst wieder ein wirkliches europäisches Netz, das auf allen Strecken nutzbar ist und nicht mehr so große Lücken aufweist."
Der Ausbau des Nachtzugnetzes
An der Schließung dieser Lücken arbeiten die ÖBB, die Deutsche Bahn, die französische SNCF und die Schweizer Bundesbahnen (SBB) in Kooperation. Ende 2020 gaben sie bekannt, das europäische Nachtzugstreckennetz ausbauen zu wollen. Seitdem sind immer mehr Großstädte in Europa schlafend von Deutschland erreichbar. 13 weitere Anschlüsse sind in Planung, wie etwa Berlin, Brüssel und Paris ab Ende 2023.
Zugbegeisterte wie Matthias Gastel, verkehrspolitischer Sprecher der Grünen, kommen da schnell ins Schwärmen von einem europäischen Nachtzugnetz mit bis zu 2000 Kilometern Schiene. "Das ist schon eine erstaunliche Distanz, bei der man im Flugverkehr schon von einer Mittelstrecke spricht." Seine Vision: Ein Streckennetz, dass innereuropäische Flüge weitestgehend überflüssig macht. Bis es so weit ist, müsse aber vor allem die Infrastruktur ausgebaut und die Digitalisierung optimaler genutzt werden. Und natürlich muss die Schieflage im Wettbewerb abgebaut werden. Fliegen sei einfach zu billig, so Gastel.
Klimaschonend reisen
Eine Reise mit dem Nachtzug ist klimaschonender als das Zurücklegen der gleichen Strecke mit dem Flugzeug. Im Nachtzug von München nach Zagreb fällt in Gesprächen immer wieder das Klimaargument. Für Ismail aus Amsterdam ist es aber auch dieses andere Reisen: "Ich fühle mich dann immer so, als würde ich eine Zeitreise antreten." Und irgendwie scheint die jahrelange Fliegerei mit den Billiganbietern bei den Reisenden eher Genervtheit als die versprochene Leichtigkeit und Freiheit des Fliegens ausgelöst zu haben. "Für mich ist Zugfahren entspannter. Am Flughafen muss man zwei Stunden eher da sein, dann klappt irgendwas nicht. Dann brauchst du doch wieder ewig, bis du dein Gepäck hast. Und hinzu kommen natürlich die Emissionen", sagt Verkehrsplaner Johannes aus Weimar.
Konkurrenz zum Luftverkehr?
Warum, frage ich mich, haben wir uns dieses stillose, klimaschädigende Reisen in schäbigen, plastikverkleideten Flugzeugen, in denen man sich eher wie im Bus statt wie im Flugzeug à la Concorde fühlt, bloß so lange angetan? Die Antwort auf diese Frage ist vielleicht in den politischen Entscheidungen der letzten Jahrzehnte zu finden.
Ab Anfang der 1990er-Jahre hat die EU für den Flugverkehr Steuererleichterungen beschlossen. Billigflieger wurden plötzlich überall verfügbar. Der Wegfall der Kerosinsteuer und der Verzicht bei internationalen Flügen auf die Mehrwertsteuer sind die größten Faktoren. Mit dem Boom der Billigflieger habe es kaum Investitionen auf der Schiene gegeben, und damit wurde auch das Image immer schlechter, so Mobilitätsexperte Knierim. Die jahrzehntelange Bevorzugung des Flugverkehrs hat den Nachtzug schleichend seiner Funktion enthoben. Bernhard Rieger von den ÖBB sieht darin auch den Grund, warum so viele europäische Bahnen aus dem Marktsegment Nachtzug ausgestiegen sind.
Ein Plädoyer für den Nachtzug
Auf meiner nächtlichen Fahrt bis Zagreb habe ich drei Landesgrenzen überquert. Ich habe mit Menschen aus sechs Nationen gesprochen. In München habe ich mich mit Schweinebraten und Knödeln gestärkt und bin mit Blick auf die slowenischen Alpenausläufer aufgewacht - das Nachtzugfahren ist eine wunderbare Art des Reisens. Es lässt einen die Distanz spüren auf eine langsame, stilvolle und ausgeruhte Art. Obendrein ist es klimaschonender als die Reise durch die Luft. Ich werde für einen Trip innerhalb Europas so schnell nicht mehr in den Flieger steigen.