Mit Anne Frank interaktiv gegen Rassismus
16. Juni 2018Im Eingangsbereich der Ausstellung stoßen die Besucher auf das weltberühmte Tagebuch der Anne Frank. Darin beschreibt das jüdische Mädchen ihr Leben in einem Amsterdamer Hinterhaus, wo sie sich mit ihrer Familie vor den Nationalsozialisten versteckte.
Das Buch ist natürlich nicht das Original, sondern eine Kopie. Und es ist das einzige klassische Ausstellungsobjekt in der Bildungsstätte Anne Frank. Wer mehr über Annes Leben in der Hinterhauswohnung der Prinsengracht 263 erfahren möchte, muss zum Tablet greifen, denn die neue Ausstellung präsentiert sich vor allem digital. Man sei eben "kein Museum, sondern ein Lernlabor", sagt Direktor Meron Mendel.
Geschichte ohne Zeigefinger
Es gibt niemanden, der Schulklassen und Jugendgruppen mit erhobenem Zeigefinger mahnend durch die Räume führt. "Im Gegenteil", so Mendel. "Wir zeigen, dass es Spaß machen kann, sich selbst zu hinterfragen und irritieren zu lassen. Wir nehmen Jugendliche ernst. Unser Motto lautet: Deine Meinung zählt!"
Die bisherige Ausstellung "Ein Mädchen aus Deutschland" lockte seit 2003 rund 120.000 jugendliche Besucher nach Frankfurt, die Heimatstadt Anne Franks. Im jetzt eröffneten Lernlabor sollen es noch mehr werden. Computer, Videos, virtuelle Welten: Damit kennen sich Jugendliche aus. Die Idee dazu, Themen wie Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung, die auch heute zum Alltag vieler Jugendlicher gehören, derart zu verpacken, kam Mendel im Berliner Technikmuseum. Dort tobte sich sein eigener Sohn mit Feuereifer an den Mitmach-Stationen aus. Prompt setzte er das Konzept auch in der Bildungsstätte um.
Zu Gast bei Anne Frank
"Es ist eine Spielwiese, ein Experimentierfeld für Gegenwart und Vergangenheit", so Meron. 14 Mitarbeiter leisten den Besuchern im Labor Hilfestellung und erklären die Technik - zum Beispiel, wie die Jugendlichen Anne Frank jetzt sozusagen per Knopfdruck im Hinterhaus besuchen können. Dort versteckte sich die Familie Frank vom 6. Juli 1942 bis zu ihrer Entdeckung und Verhaftung am 6. August 1944 zusammen mit weiteren jüdischen Bewohnern. Die Laborbesucher können alle Räume abgehen: Annes privates kleines Reich, wo ein Plüschbär auf dem Bett sitzt, oder den Gemeinschaftsraum, den die Familie Frank mit anderen Untergetauchten teilen musste. Auch mit Annes jugendlichem Leidensgenossen Peter, ihrer ersten - und einzigen - Liebe.
Die plastischen 360-Grad-Aufnahmen basieren auf Annes Notizen in ihrem Tagebuch. Ein sprechendes Buch, das man antippen kann, beschreibt die Mitbewohner Annes in dem Versteck. Zeitzeugen kommen zu Wort. "Anne Franks Geschichte fühlt sich ganz nah an, weil sie auch Frankfurterin war", sagt die Neuntklässlerin Petra. "Das Thema Diskriminierung ist noch so aktuell wie damals. Das merkt man zum Beispiel in der U-Bahn, wenn sich Leute über andere aufregen."
Diskriminierung im Alltag
Aus der Vergangenheit geleitet Anne Frank die Jugendlichen mit den Zeilen "Morgen mehr" in die Gegenwart. Denn mit diesen Worten endet ihr erster Tagebucheintrag. "Morgen mehr" ist auch das Motto des Lernlabors: mehr Mut, um Hassreden entgegenzutreten, mehr Respekt vor anderen, mehr Widerstand, mehr Gerechtigkeit, mehr Selbstreflexion. Die Themen Migration, Flucht, Asyl und die Lebensrealitäten junger Menschen spielen eine große Rolle bei dem Rundgang. Der Blick soll geschult werden, um Formen der Diskriminierung im Alltag zu entlarven. Warum zum Beispiel sagt man "Zigeunersoße" statt Paprikasoße? Und steckt nicht auch im Wort "Schwarzarbeit" Rassismus?
Ein Blick durch die "Rassistenbrille"
Besonderen Eindruck hinterlässt bei den Jugendlichen die " Rassistenbrille": Durch speziell präparierte Gläser lassen sich Zeichnungen von "ganz normalen" Menschen buchstäblich "von Vorurteilen verzerrt" betrachten: Aus dem Mädchen wird eine Klischeezigeunerin oder eine Hure, der Student mutiert zum Gangster oder zum böse dreinblickenden Rapper. "Ich finde, man sollte einen Menschen zuerst kennenlernen, bevor man sich eine Meinung über ihn bildet", sagt Schülerin Lara. Ein paar Schritte weiter fordert die Station "Hate speech" die Besucher auf, Hassreden, wie sie täglich im Internet verbreitet werden, zu erkennen und dagegen zu intervenieren.
Keine vorgefertigten Antworten
Allein gelassen mit ihren Eindrücken werden die Jugendlichen nach dem Rundgang nicht: Am Ende des Labors werde nochmal alles zusammengefasst und bei Bedarf diskutiert, so Kuratorin Deborah Krieg. "Die jugendlichen Besucher sollen zu Fragen animiert werden: Was sind meine eigenen Perspektiven? Was finde ich ungerecht? Was möchte ich verändern?"
Fertige Antworten will die Schau nicht liefern, stattdessen verlangt sie den jungen Besuchern eine Auseinandersetzung mit sich und ihrer Umgebung ab. Die ersten Besucher kamen zur Eröffnung am 12. Juni ins Lernlabor, Anne Franks 89. Geburtstag.
Unter ihnen war auch die 97-jährige Trude Simonsohn, Ehrenbürgerin der Stadt Frankfurt und KZ-Überlebende. Wenn heutige Jugendliche sie fragen, was sie tun könnten, um zu verhindern, dass jemals wieder so etwas wie unter den Nazis passiert, antwortet sie: "Zu jedem Unrecht sofort 'Nein!' sagen".
Am 16. und 17. Juni lädt das Lernlabor "Anne Frank. Morgen mehr" zum großen Publikumswochenende ein.