Was folgt aus dem Missbrauchsfall Staufen?
9. August 2018Warum hat niemand eingegriffen? Wie konnte so ein Verbrechen jahrelang unentdeckt bleiben? Nach dem Urteil im Staufener Missbrauchsfall bewegen diese Fragen viele Menschen in Deutschland. Trotz ihrer langen Berufserfahrung ist auch Martina Huxoll-von Ahn fassungslos, wenn sie über den Fall spricht. Sie ist die stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB), der größten Kinderschutzorganisation Deutschlands. Im Gespräch mit der Deutschen Welle (DW) merkt man ihr an, wie schwer es ihr fällt, ein nüchternes Statement abzugeben: "Wir wissen auch von anderen Fällen, in denen Kinder nicht nur von ihren Eltern, also der Mutter und dem Vater, missbraucht werden, sondern sie obendrein im Internet weiteren Erwachsenen, vorzugsweise Männern, gegen Geld angeboten werden. So unvorstellbar sich das auch anhört." Wie häufig so etwas vorkomme, könne nicht gesagt werden, sagt von Ahn: "Viele Fälle kommen ja nie ans Tageslicht."
Das Verbrechen in Staufen, einer Kleinstadt knapp 20 Kilometer südlich von Freiburg, ist ans Tageslicht gekommen: Zwei Jahre lang musste ein heute zehnjähriger Junge unfassbare Qualen erleiden. Von seiner eigenen Mutter, Berrit T., und ihrem Freund, Christian L., war er im Internet zur Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch angeboten worden. Männer aus dem In- und Ausland reisten in die Region, um sich an dem kleinen Jungen zu vergehen. Dafür zahlten sie teilweise mehrere Tausend Euro.
Bessere Schulung von Ärzten, Richtern, Polizisten gefordert
Am Dienstag hatte das Landgericht Freiburg sein Urteil gesprochen: Die Mutter wurde zu zwölfeinhalb Jahren, ihr Lebensgefährte zu zwölf Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Angesichts der Tragweite des Falls ist es nicht verwunderlich, dass man sich nicht nur beim DKSB schockiert zeigt. Schon kurz nach der Verurteilung meldete sich die stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Katja Suding zu Wort. Das hohe Strafmaß, sagt Suding, sei zwar zunächst "ein wichtiges Signal", da die Kriminalstatistik jedes Jahr "20.000 schwere Misshandlungen von Kindern in Deutschland" zähle. Die 42-Jährige wollte sich jedoch nicht nur auf die Verbrechen der Verurteilten konzentrieren. Dezidiert nahm sie auch das Verhalten der Behörden in den Blick: "Wir müssen weitere Anstrengungen unternehmen, damit sich schwerwiegende Fehleinschätzungen und Versäumnisse nicht wiederholen. Konkreter Handlungsbedarf besteht sowohl in der Vernetzung beteiligter Akteure als auch in der fachlichen Qualifikation: Ärzte, Familienrichter und Polizisten müssen entsprechend geschult sein, um als Teil des Frühwarnsystems die richtigen Entscheidungen treffen zu können."
Fatale Entscheidung des Familiengerichts
Sudings Mahnungen kommen nicht von ungefähr: Dass in der Familie in Staufen etwas im Argen lag, war auch offiziellen Stellen bekannt: Christian L. war den Behörden nicht nur als verurteilter Sexualstraftäter bekannt, er lebte - trotz eines bestehenden Kontaktverbots mit Kindern - bis zu seiner Verhaftung Anfang 2018 mit dem Kind und dessen Mutter unter einem Dach zusammen.
Schon im Frühjahr 2017, also mehrere Monate vor der Verhaftung der beiden Straftäter, war der kleine Junge vom Jugendamt kurzzeitig in Obhut genommen worden. Die Erziehungsfähigkeit der Mutter hatte in Zweifel gestanden, der Verdacht des Missbrauchs stand schon damals im Raum.
In der Rückschau ist es unvorstellbar, was dann passierte: Per Gerichtsentscheid kam der heute Zehnjährige wieder zu seinen Peinigern zurück. Der Grund: Ein Familiengericht stützte seine Entscheidung nur auf die Aussage der Mutter, statt auch den Jungen nach seiner Situation zu befragen. Auch vor dem Jugendamt konnte das Paar seine Taten lange verbergen.
Missbrauchsbeauftragter Rörig: kein "regionaler Einzelfall"
Vor diesem Hintergrund hat sich auch der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, in die Diskussion eingeschaltet: "Es gab offensichtlich strukturelle Probleme im Zusammenspiel von Gerichten und Behörden, die jetzt umfassend untersucht und aufgearbeitet werden müssen. Es geht um grundlegende Fragen der Zusammenarbeit und personellen Ausstattung von Gerichten und Behörden im Kampf um das Kindeswohl sowie der Qualifizierung beteiligter Fachkräfte. Der "Fall Staufen" legt eine Reihe von Fehleinschätzungen und Versäumnissen offen. Wir sind es dem Kind schuldig, jetzt die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Das betrifft das Land Baden-Württemberg, alle anderen Länder und auch die Bundesjustizministerin." Auf keinen Fall, so der unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, dürfe der Fall als "regionaler Einzelfall" behandelt werden.
Die FDP-Politikerin Katja Suding sieht einen Grund für das Versagen in einem massiven Personalmangel bei Jugendämtern: "Dass derzeit schätzungsweise 16.000 Stellen in den Jugendämtern fehlen, ist nicht hinnehmbar. Die Opfer von Missbrauch kämpfen ein Leben lang mit physischen und psychischen Verletzungen." Eindringlich verlangt Suding: "Hilfsstrukturen, die den Opfern nach der Tat zur Seite stehen: verlässlich, unbürokratisch, fachlich kompetent."
Martina Huxoll-von Ahn vom DKSB kann sich vielen Forderungen aus der Politik nur anschließen. Jede Forderung möchte sie aber nicht unterstützen. Dass zu strenger Datenschutz hinderlich bei der Aufarbeitung von Verbrechen sei, wie der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, erklärte, weißt von Ahn zurück. Die Polizei sei schon heute in der Lage, "im Falle von Kinderpornografie anlassunabhängig" zu ermitteln. Ihr sei kein Fall von Ermittlungen bekannt, "bei dem sich der Datenschutz als Hürde oder Problem erwiesen hätte."
Aufarbeitung hat begonnen
Auch wenn gerade der DKSB für die Rechte von Kindern eintritt: Eine absolute Sicherheit für alle Kinder, sagt von Ahn, könne schlicht nicht gewährleistet werden: "In so einem Fall, wo beide Elternteile beteiligt sind, fällt es schwer, mit einem Patentrezept aufzuwarten. Wir leben in einem freiheitlichen Staat. Eine Totalüberwachung von Familien ist schlicht nicht möglich." Das Ganze funktioniere nicht nach dem Motto, "an der oder der Stellschraube muss man drehen, die oder die Maßnahme hätte man ergreifen müssen, und dann ist das Problem gelöst".
Dennoch erscheint der Fall in Staufen so monströs, erklingen die vielfältigen Forderungen nach Aufarbeitung der Fehler bei Behörden zu laut, als dass sie ungehört verhallen könnten. Erste Schritte sind schon eingeleitet: Das betroffene Familiengericht und das Jugendamt sind dabei, die Versäumnisse intern aufzuarbeiten. Gegen einen Sachbearbeiter des Jugendamts ermittelt die Staatsanwaltschaft, und das Oberlandesgericht Karlsruhe hat mitgeteilt, dass eine Arbeitsgruppe im September Vorschläge vorstellen will, wie Behörden und Justiz künftig besser zusammenarbeiten sollen.