Missbrauchsbeauftragter gibt keine Entwarnung
29. August 2013"Der Anfang ist getan", lautete die Bilanz des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig. "Wir wurden Zeitzeuge einer deutlichen Veränderung der Bewusstseinslage zu Kindesmissbrauch", sagte er am Donnerstag (29.08.2013) in Berlin. Doch zufrieden sei er trotzdem nicht. Denn noch immer blieben die polizeilich gemeldeten Fälle von Kindesmissbrauch ungebrochen hoch. Die Kriminalstatistik des Jahres 2012 führt nach seinen Angaben 12.500 solcher Fälle auf. Wobei die Dunkelziffer, also die Zahl der nicht gemeldeten Fälle, sehr wahrscheinlich erheblich höher liege.
Auch vor diesem Hintergrund hat Rörig die schriftliche Bilanz seiner Arbeit als unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs den mahnenden Titel "Keine Entwarnung - kein Schlussstrich" gegeben.
Tabu-Thema erreichte eine breitere Öffentlichkeit
Vor dreieinhalb Jahren erschütterte eine Welle von bekannt gewordenen Missbrauchsfällen der vergangenen Jahrzehnte an staatlichen und kirchlichen Einrichtungen die Öffentlichkeit. Die Politik reagierte schnell, setzte Christine Bergmann als Missbrauchsbeauftragte ein und etablierte einen Runden Tisch mit Vertretern von Politik, Institutionen und Opferverbänden. Eine Lawine kam ins Rollen. Auch viele Betroffene, die in der eigenen Familie missbraucht wurden, brachen ihr Schweigen. Das bisherige Tabu-Thema Kindesmissbrauch erreichte eine breitere Öffentlichkeit.
In Schulen, Heimen und Sportvereinen wurden mit staatlicher Unterstützung Kinder und Betreuer für das schwierige Thema sensibilisiert. Im Fernsehen wurde eine Aufklärungskampagne gestartet. Wissenschaftler bekamen Geld für Forschungsvorhaben. Der Gesetzgeber verbesserte die Möglichkeiten der Opfer, Schadensersatz zu bekommen. Auch das Strafrecht wurde verschärft. Der Bund stellte allein für Therapien 50 Millionen Euro zur Verfügung - die gleiche Summe von den Bundesländern steht noch aus.
Offen bleibt, warum angesichts dieser Fülle von Maßnahmen die Anzahl von Missbrauchsfällen nicht abnimmt. Über mögliche Ursachen dafür wollte Rörig nicht viel sagen und relativierte die Zahlen. Er sehe zwar Fortschritte in der Prävention, "jedoch der Schutz vor Missbrauch ist noch nicht so weit, dass die Fallzahlen tatsächlich zurückgehen".
Rörig wirbt für Forscher-Kommission
Rörig warb deshalb dafür, dem Missbrauchsbeauftragten eine Gruppe von fünf bis sieben Wissenschaftlern als eine unabhängige Kommission zur Seite zu stellen. Denn die weiterhin notwendige Aufarbeitung von Kindesmissbrauch sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Der Staat müsse anleiten bei Schutzkonzepten für Schulen, bei Fortbildungen für Erzieher, bei der Einrichtung von Beratungsstellen und der Ursachenforschung. Außerdem habe er als Missbrauchsbeauftragter bisher noch viel zu wenig die Rolle des Internets und von Social Media untersuchen können, sagte Rörig. Dieser Bereich müsse noch "intensiv und angemessen" bearbeitet werden.
Doch Rörig muss darum kämpfen, dass es seine Stelle nach der Bundestagswahl am 22. September 2013 überhaupt noch gibt. In den Wahlprogrammen der beiden großen Parteien SPD und CDU finde sich kein Hinweis, dass ein Missbrauchsbeauftragter auch zukünftig finanziert würde, sagte Rörig - obwohl dem Thema an sich ein hoher politischer Stellenwert beigemessen werde. Nur FDP und Grüne planten die gesetzliche Festschreibung einer solchen Stelle. "Es gibt noch die Möglichkeit einer Verlängerung bis Ende 2013, aber danach ist erst einmal definitiv Schluss." Dann müsse der neu gewählte Bundestag entscheiden, ob es einen neuen Missbrauchsbeauftragten geben soll oder nicht.
Lob für katholische Kirche
Sehr positiv bewertete Rörig in seiner Bilanz, dass die katholische Kirche einen neuen Anlauf für ein Forschungsprojekt zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in kirchlichen Einrichtungen gestartet hat. Gut sei, dass das Projekt interdisziplinär ausgerichtet sei und Experten von außerhalb der Kirche befragt sowie Betroffene mit einbezogen werden sollen.
Die Bischofkonferenz gab jüngst bekannt, dass in einem mehrjährigen Projekt "Täterstrategien, Opfererleben und institutionelle Aspekte" untersucht und "verlässliche Zahlen" erhoben werden sollen. Der erste Anlauf dazu war zu Beginn des Jahres gescheitert, weil es zwischen den Projektpartnern einen Streit um die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen gegeben hatte.