Ansturm aus Tschetschenien
15. August 2013"Alarmierend ist nicht die Zahl der Bewerber, sondern die Situation der Flüchtlinge vor den Toren Europas, die verzweifelt versuchen, Europa zu erreichen", hält Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl im Gespräch mit der Deutschen Welle dem Bundesinnenminister entgegen. Angesichts der mehr als 52.000 Asylanträge, die im laufenden Jahr bei den Behörden eingegangen sind, rechnet die Bundesregierung mit 100.000 Menschen, die bis Ende des Jahres erstmals ein Asylgesuch stellen.
"Die meisten kamen aus Russland, Syrien, Afghanistan, Serbien, dem Iran und Pakistan", sagt Ole Schröder, parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium, gegenüber der DW. Von den 11.500 Kandidaten mit russischem Pass, die zwischen Januar und Juli einen Antrag stellten, sollen 90 Prozent Tschetschenen sein.
Extremisten drohen mit Anschlägen in Sotchi
Sie seien vom Kaukasus-Konflikt betroffen, in dem es zu schweren Menschenrechtsverletzungen komme, erklärt Menschenrechtsaktivist Burkhardt von Pro Asyl. Seine Organisation warnt davor, mit den gestiegenen Flüchtlingszahlen im Wahlkampf Ängste und Ressentiments zu schüren.
Regierungsvertreter Ole Schröder deutet die Zahlen anders: "Viele Menschen aus Tschetschenien sind offensichtlich der Meinung, dass sie hier arbeiten können, was natürlich nicht der Fall ist. Nichtsdestotrotz prüfen wir jeden einzelnen Antrag, weil bei den Personen, die dort herkommen, ein Verfolgungsgrund vorliegen kann."
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das die Anträge bearbeitet, schätzt, dass knapp jeder fünfte Flüchtling aus der Russischen Föderation Opfer von Menschenrechtsverletzungen ist. Unter den Asylbewerbern sollen auch 200 Islamisten sein, die Spenden sammeln oder Kämpfer für den Einsatz im Kaukasus anwerben, wird ein Verfassungsschützer anonym in der deutschen Presse zitiert.
In einem islamistischen Propagandavideo im Internet droht Doku Umarow, Anführer der Terrorgruppe "Kaukasisches Emirat", mit Anschlägen während der Olympischen Spiele im russischen Sotchi im nächsten Winter.
Gerüchte über Geldgeschenke
Die hohe Zahl an Asylgesuchen hat noch einen anderen Grund: Geld. Bis zu 4000 Euro würde jeder Tschetschene in Deutschland erhalten, war in kaukasischen Zeitungen zu lesen. Schleuserbanden machten sich die Falschinformationen zunutze, sie transportierten ausreisewillige Tschetschenen in Scharen über Polen und Tschechien nach Deutschland.
Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, warnt sogar: "Die Kämpfer kommen aus einem Bürgerkrieg, wo sie das Töten gelernt haben." Dass die Attentäter des Boston-Marathons aus Tschetschenien stammten, bei dem drei Menschen getötet und mehr als 260 verletzt wurden, veranlasst deutsche Behörden nachhaltig zur Wachsamkeit, bestätigt Staatssekretär Schröder: "Natürlich müssen die Sicherheitsbehörden darauf achten, dass Terroristen nicht über den Asylweg versuchen, sich in Deutschland einzuschleusen."
Günter Burkhardt warnt dagegen vor pauschaler Stimmungsmache gegen Minderheiten wie Tschetschenen oder auch Roma. Denn bei den Menschen aus Serbien, die im laufenden Jahr einen Asylantrag gestellt haben, handelt es sich überwiegend um Angehörige der Roma-Minderheit. Deren Anerkennungs-Quote liege bei Null, so Ole Schröder gegenüber der DW.
Es dürften nur diejenigen hier bleiben, die auf eine medizinische Behandlung angewiesen seien, die sie in Serbien nicht bekämen. "Wir führen die Asylverfahren beschleunigt durch, weil aus Serbien das deutsche Asylrecht massenhaft missbraucht wird", erläutert Schröder die gängige Praxis. Serbien strebt die Aufnahme in die Europäische Union an. Roma werden danach vom Recht auf Freizügigkeit profitieren, das es jedem EU-Bürger ermöglicht, in einem anderen EU- Land zu leben und zu arbeiten.
Eine politische Verfolgung gebe es in Serbien nicht, so Schröder, der aber zugibt, dass die Lebensumstände in dem südeuropäischen Land schwierig seien, "besonders für Minderheiten, aber das ist kein Grund, hier in Deutschland Asyl zu beantragen". Pro Asyl-Chef Burkhardt dagegen bezeichnet die Menschenrechtssituation in Serbien und in den gesamten Balkanstaaten für Roma als "katastrophal". Sie seien an den Rand der Gesellschaft gedrängt, würden diskriminiert und hätten fast keine Existenzgrundlage.
Die Verantwortung der EU
"Es ist zweifelsfrei so, dass Europa insgesamt mehr tun muss, um Menschenrechtsverletzungen vorzubeugen", fordert Günter Burkhardt. Angesichts der Flüchtlingszahlen sei allerdings auch die Frage zu stellen, ob Interventionen wie in Afghanistan oder im Irak dazu geführt hätten, die Menschenrechtssituation zu verbessern, oder ob man es nicht auf Jahre hinweg mit instabilen Regionen zu tun habe, wo es zu schweren Menschenrechtsverletzungen komme. Es sei eine Illusion zu glauben, dass die Konflikte dort ohne Auswirkungen auf Europa blieben, so Burkhardt.