Missbrauch in der Kirche: Der Skandal im Skandal
25. November 2020Karl Haucke steht am Ufer des Rheins und blickt auf den Kölner Dom. Den Glauben an die Kirche, den habe er vor langer Zeit verloren, sagt er. Hauckes Geschichte beginnt Anfang der 60er Jahre, in einem Ordensinternat im nordhein-westfälischen Bonn. Im Alter von elf bis 15 Jahren wird er von einem Pater missbraucht, mindestens einmal pro Woche.
Doch beim sexualisierten Missbrauch allein bleibt es nicht. Haucke wird gezwungen, die Taten selbst zu beichten. "Wir sind wöchentlich beichten gegangen. Und zur Beichte gehört ja die Buße. Es konnte je nach Lust und Laune des Täters geschehen, dass die Buße darin bestand, dass man erneut vorstellig werden musste bei ihm oder dass er ankündigte 'Ich komme dann heute Abend oder morgen in den Schlafsaal an deinem Bett vorbei.' Da ging es dann weiter."
Damals kann Haucke sich niemandem anvertrauen und nicht richtig einordnen, was ihm da widerfährt. Er weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass viele seiner Mitschüler dasselbe Schicksal erdulden müssen. "Wir hatten überhaupt keine Worte für das, was da geschehen ist. Wir wussten das nicht zu benennen und wir wussten auch die Bedeutung dessen nicht zu benennen. Dazu kommt noch: Wir haben nicht nur die Schmerzen gehabt. Wir haben auch sehr deutlich das Gefühl der Demütigung und des Benutzt-worden-seins gehabt", sagt Karl Haucke.
Als Erwachsener kann er sich lange Zeit nicht daran erinnern, was damals passiert ist. Er wird zum Workaholic, arbeitet bis zu 14 Stunden am Tag, ohne zu wissen, was ihn antreibt. Herzrasen und andere Symptome sind längst zum ständigen Begleiter geworden.
Und dann macht es bei Haucke plötzlich klick. Das war im Jahr 2010, als der größte Missbrauchsskandal der Kirchengeschichte in Deutschland ans Licht kommt. Lawinenartig wird damals eine große Anzahl an Missbrauchsfällen in kirchlichen Einrichtungen enthüllt.
"Mir wurde noch nicht der Zusammenhang zwischen aktuellen Gesundheitsstörungen und den Erlebnissen von damals klar. Aber mir ist sehr vieles wieder eingefallen. Es hat dann nur anderthalb Jahre gedauert, bis die Seele gesagt hat: 'Da will ich nichts mehr mit zu tun haben.'" Im Alter von 61 Jahren versucht Karl Haucke sich das Leben zu nehmen.
Doch er überlebt und beginnt danach eine Therapie. "Ich wollte kein Opfer mehr sein, sondern konstruktiv mit dem Thema Kindesmissbrauch umgehen", sagt er.
Hoffen auf Aufklärung
Als Kardinal Rainer Maria Woelki, der Erzbischof von Köln, vor zwei Jahren eine umfassende und unabhängige Untersuchung der Fälle sexualisierten Missbrauchs in seinem Bistum ankündigt, schöpfen Karl Haucke und andere Betroffene Hoffnung. Hoffnung darauf, dass endlich Namen genannt werden und die Kirche Verantwortung übernimmt. Hauckes Ordensinternat, an dem der Missbrauch geschah, gehört zum Kölner Bistum. Er und weitere Betroffene werden in den Betroffenenbeirat berufen, Haucke wird zu dessen Sprecher.
Als er zum ersten Mal mit der Deutschen Welle spricht, ist es März 2020 und die Veröffentlichung der von Woelki angekündigten Untersuchung steht kurz bevor. "Ich fordere, wer als Personalchef, als Generalvikar, als Bischof schon mal einen Täter versetzt hat, ohne ihn in seiner Tätigkeit zu beschränken, der darf nicht weiter Bischof oder Generalvikar oder Personalchef sein. Und entsprechende Erwartungen habe ich in dem Fall, dass solche Verfehlungen durch die Studie aufgedeckt werden", sagte Haucke damals.
Doch durch die Studie wird nichts aufgedeckt. Denn Woelki und sein Erzbistum halten sie bis heute zurück. In einer außerplanmäßigen Sitzung Ende Oktober erklären sie den Betroffenen, die Studie sei nicht "rechtssicher" und enthalte "unzulässige Vorverurteilungen". Nach mehreren Stunden voller juristischer Erklärungen werden die Betroffenen einzeln befragt, ob auch sie gegen die Publikation der Untersuchung sind. Die Betroffenen stimmen letzten Endes zu, die Studie unter Verschluss zu halten.
Karl Haucke ist empört über dieses Vorgehen. Er ist sich sicher, dass das Ganze eine bewusst verfolgte Taktik war. Aus Protest verlassen er und andere Betroffene den Beirat. "Man brauchte uns als Kennmarke, als Markenzeichen für die Richtigkeit dieses Beschlusses, der Unterdrückung von Ergebnissen", erklärt Haucke.
Retraumatisierung der Opfer
Diese Sichtweise wird auch von Kirchenrechtlern wie Thomas Schüller unterstützt: "Ich bin Kirchenrechtler. Ich habe nur mit den dunklen Themen und schlimmen Themen der Kirche zu tun. Aber das ist schon an Dreistigkeit, an dunklen Machenschaften kaum zu überbieten, was das Erzbistum Köln da gerade abliefert. Und man wird es ihnen nachweisen können und man kann es ihnen nachweisen", ist Schüller überzeugt.
Karl Haucke fühlt sich retraumatisiert, altbekannte Symptome kehren zurück: "Betroffene wurden erneut benutzt. Menschen, die schon beschädigt waren in ihrer Geschichte durch Kleriker, wurden erneut beschädigt und das zum Schutz der Institution. Als ich endlich begriff, was da eigentlich abging, da war ich sofort erinnert, an das Tatgeschehen von damals", so Haucke.
Noch immer kann er nicht abschließen mit dem, was damals geschehen ist: "Mit meinem Täter konnte ich nicht abschließen, weil er in den 80er Jahren verstorben ist. Aber die öffentliche Übernahme von Verantwortung seitens der Institution, die diesen Täter alimentiert hat, die ihm zugeschaut hat, die ihm die Strukturen gegeben hat, um all diese Untaten zu ermöglichen, auf die warte ich noch. Das Abschließen mit dieser Institution ist noch immer mein Anliegen."
Das Bistum Aachen hatte zuletzt gezeigt, dass Aufklärungsarbeit funktionieren kann. Dieselbe Kanzlei, die auch mit der Studie des Erzbistums Köln betraut war, hat zu Missbrauchsfällen in Aachen kürzlich ein Gutachten veröffentlicht. Das Erzbistum Köln kündigt an, es werde nun eine völlig neue Untersuchung geben.
Karl Haucke glaubt nicht mehr daran.