Sexualisierte Gewalt in der Familie
7. September 2021"Ich werde nie den Tag vergessen, an dem mir geglaubt wurde", sagt Angela Marquardt. Sie ist Mitglied des Betroffenenrats beim UBSKM, dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Mehr als die Hälfte der Betroffenen, die sich gemeldet haben, hat sexuellen Missbrauch in der eigenen Familie erlebt, auch Angela Marquardt.
Lange gab es kaum Forschungen dazu. Marquardt betont, dass Kindern und Jugendlichen selten geglaubt und kaum geholfen werde, wenn sie sexuelle Gewalt von ihrem (Stief-)Vater, Onkel, Großvater, Bruder, ihrer (Stief-)Mutter oder anderen Verwandten erleben.
Schutzraum Familie wird zur Falle
"Aus der eigenen Familie kann sich ein Kind nicht allein befreien", sagt auch Sabine Andresen, Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, die die neue Studie in Berlin vorgestellt hat. Der Schutzraum Familie werde zur Falle, seit Generationen. "Sehr viele Betroffene berichten, dass ihre Familie Kontakt beispielsweise zu Jugendämtern hatte", sagt Andresen. Den Kindern sei trotzdem nicht geholfen worden, die Interessen der Erwachsenen ständen oft im Vordergrund.
Andresen ist eine der Autorinnen der Studie "Sexuelle Gewalt in der Familie. Gesellschaftliche Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche von 1945 bis in die Gegenwart". Es geht um sexualisierten Missbrauch, von verbalen Attacken bis hin zur Vergewaltigung.
Fünf Jahre lang haben die Forscherinnen vertrauliche Anhörungen und schriftliche Aussagen von 870 Betroffenen anonym ausgewertet, knapp 90 Prozent waren Mädchen, einige wurden von mehreren Tätern missbraucht. Fast die Hälfte von ihnen war jünger als sechs Jahre, als der Missbrauch begann. Die jüngsten waren Säuglinge.
Viele verstanden zunächst nicht, was mit ihnen geschah. Zitat: "Ich bin von meinem Großvater in einem Alter sexuell missbraucht worden, in dem ich noch nicht sprechen konnte. Demzufolge war es ein sehr langer Weg, dies zu entdecken und eine Sprache dafür zu entwickeln."
Die meisten Täter sind Männer
Eine andere Betroffene berichtet: "Zu dem Zeitpunkt bin ich auch öfter mal weggelaufen, kam aber nie weit. Ich wusste ja nicht, wohin als Siebenjährige." Andresen betont, wie wichtig die Aussagen der Betroffenen seien, die oft erst viele Jahre später über ihre Erfahrungen sprachen, um herauszufinden, in welcher ausweglosen Situation sich die Kinder befinden.
Ein weiteres Beispiel: "Ich litt bei jedem Vorgang an entsetzlichen Schmerzen und tiefem Kummer. Es war der Wegfall aller Kinderhaftigkeit. Ich habe nicht mehr gespielt oder gelacht. Ich fing an, viel zu weinen, vor allem in der Öffentlichkeit, was mir Hohn und Spott eintrug und mich immer mehr zum Außenseiter machte."
Häufig werden Kinder mit Drohungen zum Schweigen gebracht, das zeigen die Zeugnisse: "Was in der Familie passiert, geht keinen was an. Das sitzt bei mir noch tief: Ich darf keinem was sagen. Und immer mit dieser Drohung: Wenn wir was heraustragen, dann kann es sein, dass mein Vater ins Gefängnis muss."
Die Mehrheit der Täter (87 Prozent) waren Männer, fast die Hälfte von ihnen leibliche Väter, Stief- oder Pflegeväter. Viele Kinder suchten Hilfe bei Familienangehörigen, meist bei ihren Müttern, oft vergeblich.
Die Verantwortung der Gesellschaft
Wer als Kind in der Familie sexuelle Gewalt erleiden musste, berichte oft von dem Gefühl, allein auf der Welt zu sein, sagen die Studienautorinnen. Anders als für Betroffene aus einer Schule, einem Sportverein oder der Kirche ist es für Betroffene auch später bei der Aufarbeitung wesentlich schwerer, Ansprechpartner zu finden oder sich mit anderen zusammenzuschließen.
Innerhalb der Familien, sagt Angela Marquardt vom Betroffenenbeirat, solidarisiere man sich oft mit den Tätern und schließe die Betroffenen aus. Ihr ist es wichtig, dass die Studie die Betroffenen als Experten und Expertinnen für die Aufarbeitung versteht und sie auf Augenhöhe und nicht nur als Opfer wahrnimmt.
Sie sagt: "Die Gesellschaft hat nicht das Recht, Kinder in den Familien allein zu lassen." Diese hätten keine Institution, an die sie sich wenden könnten. "Der Tatkontext Familie ist keine Privatsache", mahnt sie: "Lesen Sie diese Studie." Es müsste eine breite gesellschaftliche Debatte geben, fordert sie, und das nicht nur, wenn schockierende Fälle wie in Münster kurzfristig für Aufsehen sorgten.
"Sexuelle Gewalt ist keine Privatangelegenheit"
Sabine Andresen betont, man müsse darauf blicken, wer die Not der Kinder sehen und helfen könnte, innerhalb und außerhalb der Familien, "bei den Nachbarn, in der Kindertagesstätte, in der Schule, bis hin zum Jugendamt". Man sehe "eine große Scheu, sich in die Familien einzumischen. Sexuelle Gewalt ist aber keine Privatangelegenheit". Die Berichte der Betroffenen zeigten, wie oft dieses Nicht-Einmischen dazu geführt habe, dass Kindern und Jugendlichen nicht geholfen wurde.
"Wir brauchen eine weitere Aufarbeitung auch der Jugendämter und ihres Handelns über die letzten Jahrzehnte", fordert sie. Die Aufklärungskommission arbeite daran. Man müsse sicherstellen, dass die Rechte von Kindern und Jugendlichen gehört werden.
Über Jahrzehnte habe es "eine Kontinuität der Respektlosigkeit, der Verachtung gegenüber Kindern und Jugendlichen" gegeben. Für eine Verbesserung müssten auch Beratungsstellen und Jugendämter besser ausgestattet werden. "Und man muss sich fragen: Warum fällt es so ungeheuer schwer, Kindern und Jugendlichen zu glauben?"
Viele, die über ihre Erfahrungen berichtet haben, wünschen sich, dass den Kindern von heute das erspart bleibt, worunter sie selbst schon so lange leiden, zitiert die Studie eine Betroffene: "Das hilft, glaube ich, total viel, wenn man gleich agiert und nicht das Kind irgendwie so 15 Jahre dann alleine lässt und dass es halt irgendwie schauen muss, wo es bleibt. Ja, nicht mehr die Augen zumachen, nicht mehr wegschieben."