Mexiko: Der Rechtsstaat fehlt, die Angst wächst
3. Februar 2022Über Monate hatte Roberto Toledo Morddrohungen erhalten. Deshalb hatte ihn die mexikanische Behörde für Menschenrechte in ein Schutzprogramm für Journalisten aufgenommen, berichtete das Nachrichtenportal "Monitor Michoacán", für das Toledo über Korruption berichtete. Doch an diesem Montag wurde er auf dem Weg zu einem Interview erschossen.
Bereits am 10. Januar war José Luis Gamboa Arenas, der Gründer eines regionalen Nachrichtenblogs aus Veracruz, ermordet worden. Genau eine Woche später exekutierten Unbekannte den Fotojournalisten Margarito Martínez, der wie Behördenschutz beantragt hatte. Seine Kollegin Lourdes Maldonado widmete ihm danach eine ganze Radio-und TV-Sendung. Fünf Tage später wurde auch sie ermordet - trotz Schutzmaßnahmen. Noch bevor der Februar begonnen hatte, waren in Mexiko im Jahr 2022 vier Journalisten ermordet worden.
Doppeltes Staatsversagen
Vor zwei Jahren soll Lourdes Maldonado Präsident Andrés Manuel López Obrador persönlich gesagt haben, dass sie um ihr Leben fürchte. Seit Jahren ist Mexiko der Organisation Reporter ohne Grenzen zufolge das gefährlichste Land der Welt für Journalisten.
Denn nicht nur die Prävention versagt in Mexiko, auch die Aufklärung. Laut Staatssekretär Encinas blieben seit dem Antritt von Präsident López Obrador im Dezember 2018 90 Prozent der Morde an Journalisten und Menschenrechtsaktivisten ungesühnt. Entsprechend niedrig ist die Hemmschwelle für Täter.
Neu ist das jedoch nicht. Die Straflosigkeit ist in Mexiko nach Experteneinschätzung seit vielen Jahrzehnten ein strukturelles Problem, das nicht nur Aktivisten und Journalisten treffen kann, sondern alle.
Mexiko habe ein gravierendes Rechtsstaatsproblem, stellt zum Beispiel das World Justice Project (WJP) Jahr für Jahr erneut fest. 2021 landete Mexiko im Rechtsstaats-Index des WJP auf Platz 113 von 139 Ländern; innerhalb Lateinamerikas liegt es auf Platz 27 von 32. Schlechter in der Region sind nur noch Honduras, Bolivien, die autoritär beherrschten Nicaragua und Venezuela sowie Haiti, das manche Beobachter als gescheiterten Staat ansehen.
Verwässerte Reformen
Viele Experten haben Studien darüber geschrieben, immer wieder wurden Reformen in Angriff genommen - zum Beispiel die Einführung eines mündlichen Strafprozesses im Jahr 2008, der das noch aus der spanischen Kolonialherrschaft stammende, rein schriftliche Verfahren abkürzen und transparenter machen sollte.
Das Nationale Antikorruptionssystem, das 2018 auf Druck der Zivilgesellschaft im Kongress verabschiedet wurde, sollte für mehr Transparenz, Rechenschaftspflicht und Partizipation im Justizwesen sorgen. Beide Reformen wurden im Netz der Bürokratie, im Zuständigkeitschaos zwischen Zentralregierung und Bundesstaaten verzögert und verwässert.
Andere Vorhaben - wie die Einrichtung einer unabhängigen Generalstaatsanwaltschaft - wurden direkt vom Präsidenten torpediert. Staatschef Andrés Manuel López Obrador setzte 2019 gegen das Votum der zivilgesellschaftlichen Organisationen seinen alten Vertrauten Alejandro Gertz Manero als Chef der neuen Behörde durch. Von einer autonomen Amtsführung sei dieser Lichtjahre entfernt, kritisierte damals Adriana Greaves von der Anwaltsorganisation Tojil: "Stattdessen nutzt er sein Amt für politische Verfolgung und spielt den Wachhund des Präsidenten."
Zusammenhangslose Ermittlungen
Einzelne Reformen, so gut sie gemeint und gedacht sein möchten, könnten nicht die Fehler im System korrigieren, warnt Ximena Ugarte vom Mexikanischen Institut für Menschenrechte und Demokratie im Gespräch mit der DW.
Ugarte sieht zwei prinzipielle Fehler in der Strafverfolgung: "Die lokalen Staatsanwaltschaften, in denen die meisten Mordfälle hängen bleiben, sind nicht ausgebildet für hochspezialisierte Ermittlungen in der organisierten Kriminalität", sagt sie. "Deshalb ermitteln sie jeden Mord als Einzelfall und sehen keine größeren Zusammenhänge, Netzwerke oder Muster dahinter." Das führe letztlich ins Nichts, befeuere die Straffreiheit und schaffe ein "Klima der Angst" unter Journalisten und in der Bevölkerung.
Staatsanwälte und Mafia
Einen politischen Willen, daran etwas zu ändern, gebe es in Mexiko nicht, sagt der Menschenrechtsexperte Michael Chamberlin: "Die Staatsanwaltschaften sind ebenso wie viele kommunale und bundesstaatliche Regierungen von kriminellen Netzwerken unterwandert." Das erkläre den fehlenden Willen zur Modernisierung.
Die Einzelfall-Ermittlungen hält auch er für fatal. So landeten zwar einzelne Straftäter im Gefängnis - oftmals nach durch Folter erzwungenen Geständnissen, wie Menschenrechtsorganisationen und die UN anprangern -, aber die eigentlichen mafiösen Strukturen dahinter blieben unbehelligt. Unter der aktuellen Regierung verzeichnet Chamberlin sogar eher Rückschritte.
Beim Militär stoppen Ermittlungen
Ein weiteres Problem für Chamberlin ist der Einfluss der Streitkräfte, der seit Beginn des Drogenkriegs im Jahr 2006 stetig gewachsen ist. "Nimmt man die größten Massaker der vergangenen 30 Jahre in Mexiko, von Acteal bis Ayotzinapa, so endeten die Ermittlungen immer dann, wenn die Streitkräfte ins Visier gerieten", berichtet der ehemalige Berater des Schutzmechanismus für Journalisten und Aktivisten. "Das ist umso bedenklicher, weil das Militär heute sehr viele zivile Funktionen jenseits der Sicherheit übernommen hat."
Chamberlin spielt damit auf die Entscheidung von López Obrador an, das Militär mit dem Bau von Flughäfen, Zugstrecken, Bankfilialen, mit der Verteilung von Gas und der Wiederaufforstung zu beauftragen.
Dass sich das Problem mit internen Reformen lösen lässt, halten beide Experten für unwahrscheinlich. "Wir plädieren seit Jahren erfolglos für eine internationale Kommission gegen Straffreiheit, wie es sie in Guatemala unter UN-Führung gab, oder einen anderen unabhängigen Mechanismus unter einer Übergangsjustiz", sagt Ugarte. Chamberlin hofft, dass der kombinierte Druck der Zivilgesellschaft und von wichtigen Partnerländern wie den USA vielleicht doch noch etwas bewirken könnte.