#MeToo-Debatte in Frankreich
23. Mai 2018"Ist doch alles nicht so schlimm" - mit dieser Antwort hat sich Mireille Ehrhardt lange zufriedengegeben. Sie sei als junge Frau immer wieder sexuell missbraucht worden, erzählt die heute etwa 50-jährige Französin. Ihr genaues Alter will sie nicht verraten. "Ich war bei unglaublich vielen Therapeuten, aber anerkannt hat das keiner", sagt Ehrhardt, die selbst nun als Psychologin arbeitet. Sexuelle Gewalt werde von vielen ihrer Kollegen immer noch banalisiert. Doch als Frauen weltweit im vergangenen Oktober damit begannen, unter dem Hashtag #MeToo über ähnliche Erfahrungen zu sprechen, fühlte sie sich als Opfer erstmals anerkannt. Sie beschloss, sich zu engagieren.
Ende Oktober organisierten Feministinnen in ganz Frankreich unter dem Motto "#MeToo im wahren Leben" Demonstrationen, darunter auch in Lyon. In der im Osten des Landes gelegenen Großstadt luden Ehrhardt und andere Psychologinnen Opfer sexueller Gewalt während der Versammlung dazu ein, in eigens aufgestellten Zelten über ihre Erlebnisse zu sprechen. Am meisten sei ihr die Dankbarkeit dieser Frauen in Erinnerung geblieben, so Ehrhardt. "#MeToo gibt dem, was ich erlebt habe, Sinn. Jetzt kann ich wenigstens etwas daraus machen."
Keine Entschuldigung für sexuellen Missbrauch
Auch Amandine Bautz hat sexuelle Gewalt erlebt. Sie sei mehrfach vergewaltigt worden, erzählt die 28-Jährige. "Aber obwohl ich feministisch engagiert war, dachte ich: Das war meine Schuld. Er hat es nicht mit Absicht gemacht." Mit #MeToo sei der Groschen bei ihr gefallen: Die Bewegung habe ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass es keine Entschuldigung für sexuellen Missbrauch gebe. Auch Bautz half dabei mit, die Versammlung in Lyon auf die Beine zu stellen.
"Am Ende des Tages haben die Leute uns gefragt: Und was macht ihr jetzt?", sagt Flavie Weber, die ebenfalls zum Organisationsteam gehörte. "Wir hatten keinen Plan. Aber wir haben uns gesagt, wir müssen diesen Enthusiasmus nutzen." Weber, Bautz, Ehrhardt und weitere Frauen gründeten das "Kollektiv #MeToo".
Deutlich mehr Anzeigen seit #MeToo
Die Gruppe besteht aus einem harten Kern von sechs Frauen. Ähnliche Kollektive gibt es laut den Aktivistinnen auch in Paris. Die Lyonerinnen organisieren Konferenzen, beispielsweise zum Thema weibliche Sexualität, und Stammtische, bei denen sich Opfer sexueller Gewalt austauschen können. Sie setzen auf ein niedrigschwelliges Angebot, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Die Voraussetzungen dafür seien im Moment so günstig wie nie zuvor, sagen sie. #MeToo spreche nicht nur Feministinnen an, weil die Bewegung nicht für eine konkrete politische Forderung stehe. Die Debatte habe einfach nur sichtbar gemacht, was viele Frauen erleben. "#MeToo ist so kraftvoll, weil es eine Bewegung von Frauen für Frauen ist und nicht nur irgendein Gesetz, das etwas verbietet", so Weber.
Tatsächlich hat die Debatte um sexuelle Gewalt über soziale Netzwerke bereits einiges in Frankreich bewirkt. So trauen sich offenbar mehr Frauen gegen sexuellen Missbrauch vorzugehen: Die Zahl der Anzeigen stieg in den letzten drei Monaten des Jahres 2017 um jeweils 30 Prozent. 2018 setzte sich dieser Positivtrend bisher fort.
Nichtsdestotrotz spaltet #MeToo auch in Frankreich. So beklagten im Januar die Schauspielerin Catherine Deneuve und 99 weitere Frauen in einem kontroversen Zeitungsartikel, dass die Bewegung ein "puritanisches" Klima schaffe, in dem jeder Annäherungsversuch zwischen Männern und Frauen schwierig werde. Und auch der Hashtag #BalanceTonPorc ("Verpfeif dein Schwein"), der in Frankreich neben #MeToo benutzt wird, wird von vielen als Aufruf zur Verleumdung kritisiert.
Forderung nach mehr Geld für Frauenhilfsorganisationen
Nach dem Aufkommen von #MeToo hat Präsident Emmanuel Macron den Kampf für mehr Gleichberechtigung zur "großen Aufgabe" seiner Regierungszeit erklärt. Er kritisierte eine Gesellschaft, die "an Sexismus krankt". Derzeit läuft im Parlament die Debatte um ein "Gesetz gegen sexistische und sexuelle Gewalt", mit dem unter anderem erstmals ein Mindestalter eingeführt werden soll, ab dem Sex zwischen Minderjährigen und Erwachsenen als einvernehmlich gelten kann. Außerdem sollen 420 Millionen Euro in Maßnahmen wie Notunterkünfte für Gewaltopfer oder Gleichstellungsreferenten in Schulen gesteckt werden – das Budget für 2018 wurde damit laut Regierung im Vergleich zum Vorjahr um etwa 20 Millionen Euro erhöht. Bisher ist jedoch nicht geplant, dass Hilfsorganisationen für Opfer sexueller Gewalt mehr Geld bekommen. Warum, dazu wollte die Regierung keine Stellung nehmen. Mireille Ehrhardt bezeichnet Macrons Engagement deswegen als "reine Schau".
Anne-Cécile Mailfert fühlt sich zumindest moralisch unterstützt. Die 34-Jährige ist Mitbegründerin der "Fondations des Femmes", einer Stiftung, die Geld für Frauenhilfsorganisationen sammelt. "Der Präsident wählt deutliche Worte", sagt sie. "Das zeigt, dass man das Thema nicht ignorieren sollte. Das ist ein wichtiges Signal." Doch darüber hinaus müsse der Staat auch handeln und die Organisationen besser ausstatten, fordert Mailfert. Ihre Stiftung wurde vor zwei Jahren gegründet, weil diese stark unterfinanziert seien. Mit #MeToo sei der Bedarf sogar noch gestiegen. Viele Organisationen erhalten 30 bis 40 Prozent mehr Anfragen als zuvor, so die Feministin.
Die "Fondation des Femmes" startete eine Kampagne, um vier Vereine zu unterstützen, die besonders viel Zulauf erhielten und ihr Angebot aus Personal- und Geldmangel deswegen teilweise zurückfahren mussten. Seit Februar wurden laut Mailfert 200.000 Euro gesammelt – so viele Spenden wie im gesamten Jahr 2017. Für sie ein Zeichen für den Erfolg von #MeToo. Die Französin glaubt, dass das Thema sexuelle Gewalt gegen Frauen auch langfristig wichtig bleibt. "Die Weinstein-Affäre hat etwas in der Gesellschaft verändert."