1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Merkels letzter EU-Gipfel

25. Juni 2021

Keine großen Worte zum Abschied. Ihren wohl letzten EU-Gipfel wickelt Kanzlerin Merkel geschäftsmäßig ab. Ungarn und Russland machen Probleme und bringen den Gipfel außer Takt. Bernd Riegert aus Brüssel.

https://p.dw.com/p/3vYzW
EU-Gipfel in Brüssel | Angela Merkel, Bundeskanzlerin Deutschland
Abschied von Brüssel: Angela Merkel verlässt ihren letzten EU-Gipfel Bild: John Thys/REUTERS

Da sie bei der Bundestagswahl im September nicht wieder als Kanzlerkandidatin antritt, war dieser - nach Zählung der DW - 100. EU-Gipfel der Bundeskanzlerin mutmaßlich auch ihr letzter. Auf die Frage der DW, was sie denn vermissen werde, ging die scheidende Kanzlerin, die 16 Jahre lang an Gipfeln teilnahm, nicht ein. "Ich glaube, wir haben noch Gelegenheit zur Bilanz", sagte die Kanzlerin mit Blick auf die Wochen bis zur Wahl. Viel persönliche Einsichten sind dabei aber nicht zu erwarten, "zumal ich ja meine Bilanzen ja nicht selber machen wollte, sondern das anderen überlassen möchte." Auch bei ihrem Abschieds-Gipfel blieb sich die Kanzlerin also treu und zeigte keinerlei Emotionen und gewährte keine Einblicke in ihr Gefühlsleben.

Luxemburgs Premier Xavier Bettel
Luxemburgs Premier Xavier Bettel mag Merkel und kritisiert OrbanBild: Reuters/L. Niesner

"Ich werde sie vermissen"

Ganz anders der Premierminister von Luxemburg, Xavier Bettel. Er machte aus seinem Herzen keine Mördergrube. "Ja, sie wird mir persönlich fehlen, aber sie wird vor allem Europa fehlen. Angela Merkel war eine Person, die immer probiert hat, Kompromisse zu finden, aber mit Charakter, mit Stärke, mit Überlegung", lobt der Premier des zweitkleinsten Mitgliedslandes die Regierungschefin des größten. "Ich weiß, dass Deutschlands Größe eine andere ist als meine, aber sie hat immer Respekt gezeigt, egal von wo man kommt." Respektiert worden sei die Kanzlerin auch für ihr Durchhaltevermögen während unzähliger langer Nachtsitzungen, an deren Ende sie meistens einen Kompromiss zustande brachte, berichtet Xavier Bettel. "Ich werde sie vermissen, nicht nur ich, sondern viele Kollegen. Sie ist eine große Persönlichkeit, die uns verlassen wird. Ich hoffe, dass die neue Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler genau so kompromissbereit sein wird."

Zum Abschied harscher Streit mit Orban

Der letzte Gipfel mit Angela Merkel war überschattet vom Streit mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban um die Diskriminierung von Homosexuellen durch ein Zensurgesetz. Das Streitgespräch um Werte in der EU, so Merkel, sei "tief und ehrlich" gewesen. So etwas habe sie in den 16 Jahren EU-Erfahrung noch nicht erlebt. Die Diskussion sei nicht beendet, wird also mit dem Nachfolger oder der Nachfolgerin weitergehen. Die EU ist am Ende von Merkels Amtszeit so tief gespalten wie lange nicht mehr, attestierte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron. "Es ist wahr, dass es hier eine Teilung zwischen West und Ost gibt", sagte Macron nach Ende des Treffens. "Das Problem ist nicht nur Viktor Orban, es geht tiefer." Die Idee der illiberalen Demokratie sei für einige Länder attraktiv. Es müsse einen "Kulturkampf" mit Ungarn und auch Polen geben. Eine wirkliche Lösung habe er aber nicht parat, gestand der französische Präsident zu. Ungarn und einige andere Mitgliedsstaaten hätten eine andere Auffassung über die Zukunft der EU, die nicht nur Binnenmarkt, sondern auch Wertegemeinschaft sei, meinte die Bundeskanzlerin. "Es sind ernste Probleme da und die müssen weiter behandelt werden." Allerdings dann ohne ihre Mitwirkung.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban
Schwarzer Peter für Orban: Nur Polen und Slowenien unterstützen ihnBild: Olivier Hoslet/REUTERS

Kein Gipfel mit Russland

In der Außenpolitik musste die scheidende Bundeskanzlerin noch eine Niederlage einstecken. Ihr Vorschlag, den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu einem Gipfeltreffen mit der EU einzuladen, wurde mehrheitlich zurückgewiesen. Während Merkel gemeinsam mit dem französischen Präsidenten dafür warb, mit dem russischen Widersacher zu reden, kam das für viele Osteuropäer und auch für die Niederlande nicht in Frage. Putin müsse erst seine restriktive Politik gegenüber der Opposition im eigenen Land und in den Konflikten rund um die Ukraine und Weißrussland ändern, forderten Vertreter der baltischen Staaten. Der polnische Premier Mateusz Morawiecki sagte, Putin dürfe nicht mit einem Gipfel "belohnt" werden. Angela Merkel wies diese Ansicht zurück. Es gehe nicht um eine Belohnung für Putin, selbst im Kalten Krieg habe man miteinander gesprochen. "Das betrübt mich etwas, weil es zeigt, dass wir untereinander nicht genug vertrauen, wie nötig ist, (...) um klar und selbstbewusst auftreten zu können." Daran müsse man arbeiten. Allerdings künftig dann ohne Angela Merkel.

Putin (Mi.) mit Barroso (Re.) und Van Rompuy in Brüssel 28.01.2014
Letzter EU-Gipfel mit Russland 2014 in Brüssel: Kurz danach annektierte Putin (Mi.) die KrimBild: Reuters

Fortschritte bei Corona-Krise

Einig war sich die Gipfelrunde, dass die Bekämpfung der Pandemie in der EU gute Fortschritte macht. Wegen der Delta-Variante müsse man aber wachsam bleiben und gemeinsam die Einreise von Menschen aus "Virusvarianten-Gebieten" regeln. Einige südliche EU-Staaten, die auf Touristen zum Beispiel aus Großbritannien setzen, gehen damit im Moment lockerer um als nördliche Staaten wie Deutschland. "Wir müssen alles tun, damit es nicht zu einer vierten Welle kommt", sagte Kanzlerin Merkel in ihrer letzten Pressekonferenz in Brüssel. Die wirtschaftliche Erholung in Europa, die ganz gut vorankomme, dürfe nicht durch neue Infektionswellen gefährdet werden. Maskenpflicht und Abstandregeln sollen vorerst bleiben, empfiehlt der EU-Gipfel. Der erstmals durch gemeinsame Schulden der EU finanzierte "Wiederaufbau-Fonds" sei auf gutem Weg. Die nationalen Ausgabenpläne für die insgesamt 750 Milliarden EU sollten jetzt schnell genehmigt und umgesetzt werden. Mit einer radikalen Kurswende hatte Angela Merkel den Aufbau-Fonds möglich gemacht. Sie gab vor einem Jahr das eherne Prinzip auf, keine Gemeinschaftsschulden der EU zuzulassen.

Die 27 Mitgliedsstaaten sagten zum wiederholten Male zu, die Banken- und Kapitalmarktunion, die nach der Finanzkrise vor zehn Jahren auf den Weg gebracht wurde, endlich zu vollenden. Deutschland hatte sich bislang gegen eine Haftung für scheiternde Banken in den anderen EU-Ländern gesperrt. Diese harte Haltung könnte sich mit der nächsten Bundeskanzlerin oder dem nächsten Bundeskanzler möglicherweise auch ändern.

 

 

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union