Merkel wartet auf das Signal aus London
12. Juli 2016Demonstrativ grenzt sich der irische Premierminister Enda Kenny von Großbritanniens Entscheidung zum EU-Austritt ab. "Die Europäische Union wird unsere Zukunft bestimmen", sagte Kenny bei einem Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel am Dienstag in Berlin. Irland werde Mitglied der nach dem Brexit auf 27 Mitglieder geschrumpften Europäischen Union bleiben – und nicht den britischen Weg gehen. "Die EU ist ein lebendiger Friedensprozess", und an diesem Prozess wolle sein Land weiter aktiv mitarbeiten, so Kenny.
Der irische Premierminister steht einer Minderheitsregierung vor, die im Mai im Amt bestätigt worden war. Kanzlerin Angela Merkel betonte bei dem Treffen, dass die EU-Staaten bereits am 16. September beim EU-Gipfel in Bratislava Klarheit haben wollen über das britische Verhältnis zur EU. "Großbritannien ist am Zug, Klarheit zu schaffen", sagte Merkel und verwies noch einmal darauf, dass die tatsächlichen Verhandlungen erst nach einem offiziell eingereichten Austrittsgesuch nach Artikel 50 der EU-Verträge beginnen könnten.
Großbritannien muss sein EU-Verhältnis erklären
Besondere Aufmerksamkeit schenkten Merkel und Kenny der Situation an der irisch-nordirischen Grenze. "Der Friede ist hier leicht zu gefährden", sagte Kenny, der eine neue EU-Außengrenze zu Nordirland verhindern will. Erst mit dem Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998 konnte dort der jahrzehntelange Konflikt zwischen Großbritannien, Irland und den nordirischen Konfliktparteien friedlich beigelegt werden. Bis 2020 investiert die Europäische Union rund drei Milliarden Euro in den Ausbau der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Nordirland. Eine Priorität der Austrittsverhandlungen müsse es deshalb sein, so Kenny, diese friedliche Koexistenz nicht zu gefährden. Die Nordiren hatten beim Referendum mit 62 Prozent für den Verbleib des Königreichs in der EU gestimmt, weshalb prominente Stimmen in Nordirland jetzt auch die Wiedervereinigung mit Irland ins Spiel gebracht haben. Kenny erteilte derlei Überlegungen eine Absage. Es gebe derzeit "wesentlich wichtigere Fragen" als eine Abstimmung der Nordiren über eine Wiedervereinigung mit Irland.
Merkel und Kenny vereinbarten, gemeinsam die besondere Rolle Irlands in den Gesprächen mit der künftigen britischen Premierministerin Theresa May hervorzuheben. Dazu gehört auch das "Common Travel Area", eine Art Mini-Schengen für die beiden Inseln, das den Menschen auf beiden Inseln seit 1922 Reisefreiheit garantiert. Diese Vereinbarung müsse auch nach dem EU-Austritt der Briten bestehen bleiben können, forderte Kenny. Würde es hier zu Einschränkungen kommen, warnte Premier Kenny, seien die Arbeitsplätze von bis zu einer Millionen Iren im Vereinigten Königreich in Gefahr. Merkel betonte, dass sie die Ergebnisse der Verhandlungen nicht vorwegnehmen wolle. Man werde Regelungen finden, sagte die Kanzlerin, und zwar "immer kameradschaftlich".
Merkel und Kenny erinnerten die künftige britische Regierung daran, dass der Zugang zum EU-Binnenmarkt seinen Preis haben wird. Die Briten hatten sich im Referendum gerade mehrheitlich gegen die Personenfreizügigkeit mit den anderen EU-Staaten ausgesprochen. Diese gilt aber als Eckpfeiler für den Zugang zum EU-Binnenmarkt. Auch deshalb verspricht sich der irische Premier gute Geschäfte. Er hofft, dass Irland für viele britische Unternehmen zum Tor in den EU-Binnenmarkt werden könnte - was Jobs und Wachstum auf der "grünen Insel" verspricht. Irland stand in der Finanzkrise kurz vor der Staatspleite und wurde 2010 mit internationalen Krediten gerettet. Den Euro-Rettungsschirm verließ das Land 2014 wieder und gilt inzwischen als Musterschüler unter den ehemaligen Euro-Krisenstaaten.
Merkel: "Keine krisenhafte Entwicklung insgesamt"
Thema in den bilateralen Verhandlungen zwischen Kenny und Merkel war auch die Zuspitzung der italienischen Bankenkrise. Bereits seit mehreren Tagen wird darüber spekuliert, wie einzelne italienische Finanzinstitute vor dem Zusammenbruch zu retten sind. In ihren Büchern werden faule Kredite in Höhe von 360 Milliarden Euro vermutet - was sich bei einem Ausfall negativ auf die Stabilität der gesamten Eurozone auswirken könnte. "Ich sehe keine krisenhafte Entwicklung insgesamt", sagte Merkel dazu äußerlich gelassen.