Merkel: "Der Winter wird schwer"
29. Oktober 2020Ist die Debatte, die der Deutsche Bundestag an diesem Donnerstag erlebt, ein Vorgeschmack auf die Auseinandersetzungen, die dem Land jetzt bevorstehen? Angela Merkel wirkt angespannt und müde, als sie ans Rednerpult tritt, um zu begründen, warum das Land ab Montag kommender Woche wieder in großen Teilen still stehen wird. Immer wieder wird sie lautstark vor allem von den Rechtspopulisten von der "Alternative für Deutschland" (AfD) unterbrochen. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) muss einschreiten und die Zwischenrufer ermahnen. Und wird richtig böse, als einzelne Abgeordnete auch ihm ins Wort fallen: "Damit handeln sie sich gleich einen Ordnungsruf ein", so Schäuble. Für einen kurzen Moment wirkt die Drohung.
Am Mittwochnachmittag hatten sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder auf erneute Einschränkungen geeinigt, die die rasante Ausbreitung des Coronavirus stoppen sollen. Es war ein einstimmiger Beschluss, nichts war mehr zu spüren von den verwirrend unterschiedlichen Corona-Schritten der Vergangenheit in den 16 Bundesländern.
"Wir befinden uns in einer dramatischen Lage"
Merkel verteidigt in ihrer Rede dann die erneuten Schließungen von Restaurants, Bars und Fitnessstudios, das faktische Reiseverbot auch im Inland. Alles ab dem kommenden Montag. "Die Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen, sind geeignet, erforderlich und verhältnismäßig", sagt sie. Und weiter: "Wir befinden uns zu Beginn der kalten Jahreszeit in einer dramatischen Lage." Tatsächlich hat das zuständige Robert-Koch-Institut am Morgen mit fast 16.800 neuen Corona-Infektionen einen neuen Rekord gemeldet.
Wieder, wie im Frühjahr, werden sich die Menschen einen Monat lang nur im kleinen Kreis treffen können, wird das öffentliche Leben weitgehend still stehen. Mit Blick auf die Schließung von Freizeit- und Kultureinrichtungen sowie der Gastronomie sagt Merkel: "Ich verstehe die Frustration, ja die Verzweiflung gerade in diesen Bereichen sehr." Aber es gebe kein anderes, milderes Mittel als konsequente Kontakt-Beschränkungen, um das Infektions-Geschehen auf ein beherrschbares Niveau zu bringen. Auffällig oft lobt Merkel den bisherigen Gemeinsinn der Menschen, sie weiß, wie hart die jetzigen Schritte viele treffen. Und hart wie eigentlich noch nie geht die Kanzlerin dann mit den Menschen ins Gericht, die die Pandemie immer noch leugnen: "Lüge, Desinformationen und auch Hass beschädigen nicht nur die demokratische Debatte, sondern auch den Kampf gegen das Virus." Unterschiede zwischen Wahr und Unwahr dürften nicht verwischen. Vom Bezug zu Fakten und Informationen hingen derzeit Menschenleben ab, schließt Merkel dann dramatisch ihre Rede.
"Schnappen wir jetzt über?"
Dramatisch geht es weiter, denn kein gutes Haar lässt Alexander Gauland, der Fraktionschef der AfD, an der Regierung. Maßlos und unangemessen nennt er die Beschlüsse vom Mittwoch und fragt in die Runde: "Schnappen wir allmählich über? Wo steht im Grundgesetz geschrieben, dass die Bundesregierung mit den Ministerpräsidenten über solche Dinge befindet?" Gauland spricht von einer "Corona-Diktatur auf Widerruf", einem "Notstandskabinett". Die neuen Beschränkungen seien falsch, der Fokus der Politik müsse auf den Schutz der Hoch-Risikogruppen wie alten Menschen liegen. Gaulands Ausführungen gipfeln dann in dem Satz: "Wir müssen abwägen, auch um den Preis, dass Menschen sterben."
Das wird später den Fraktionschef der Konservativen von der CDU, Ralph Brinkhaus, auf den Plan rufen. Der gilt eigentlich als ein eher spröder Redner, doch jetzt bricht es aus ihm heraus: "Sagen Sie das mal den Menschen, die gerade Angehörige verloren haben", ruft er der AfD erregt zu. Die Regierung habe zusammen mit den Regierungschefs handeln müssen, weil Eile geboten gewesen sein, entgegnet Brinkhaus auf die Kritik, das Parlament sei nicht ausreichend an den Beschlüssen beteiligt gewesen: "Wir können doch nicht sagen: Liebes Virus, wir müssen erstmal unsere Bund-Länder-Beziehungen klären!"
Kritik an mangelnder Parlamentsbeteiligung
Die unzureichende Parlamentsbeteiligung ist auch Thema der Rede des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner: Der Bundestag könne die Corona-Politik immer nur noch nachträglich zur Kenntnis nehmen, das drohe, die parlamentarische Demokratie zu gefährden. Tatsächlich kündigt auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich an, dass seine Partei Leitplanken erarbeiten will, wie die Exekutive in solch bewegten Zeiten in der Zukunft angemessen parlamentarisch begleitet wird. An dieser Stelle wird dann deutlich: Bei immer mehr Politikern ist die Erkenntnis angekommen, dass das Virus Deutschland noch lange beschäftigen wird, weit über den Stillstand im November hinaus.
FDP-Chef Lindner listet dann einzelne Kritikpunkte an den Beschlüssen vom Mittwoch auf, die auch von vielen Experten und Wirtschaftsvertretern geteilt werden: Gerade die Gastronomie, die jetzt wieder schließen müsse, habe durch die Sammlung der Daten ihrer Gäste viel zur Kontakt-Verfolgung beigetragen in den letzten Wochen und Monaten. Jetzt würden die Menschen wieder in den Graubereich privater Veranstaltungen gedrängt, in denen es keinerlei Kontrolle gebe.
Von "Rügen nach Rhodos"
Das gleiche gelte für Reisen und Hotelübernachtungen im Inland, die im November ebenfalls verboten sind. Gerade erst seien solche Beherbergungsverbote von vielen Gerichten kassiert worden, so der Chef der Liberalen, jetzt würden die Menschen in waghalsige Auslandsreisen gedrängt. Urlauber würden jetzt von "Rügen nach Rhodos" umsatteln, sagt er. Den Blicken auf der Regierungsbank ist zu entnehmen, dass man dort weiß, dass das ein Schwachpunkt der Beschlüsse sein kann. Zwar sind private Feiern im November auch so gut wie nicht mehr möglich, aber wer das alles kontrollieren soll, steht in den Sternen.
Die Kanzlerin versucht dann noch einmal, die Menschen so gut es geht hinter sich zu bringen: "Der Winter wird schwer, vier lange, schwere Monate, aber er wird enden", so Merkel. Das klingt nach Zweckoptimismus. Wie lange die Pandemie auch Deutschland noch im Griff hat, kann keiner sagen.