"Iran missachtet seine eigenen Gesetze"
17. Juli 2017Deutsche Welle: Im Iran wurde ein US-Bürger wegen angeblicher Spionage zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er soll bereits im August vergangenen Jahres beim Versuch, den Iran zu verlassen, festgenommen worden sein. Er war also fast ein Jahr lang ohne Anklage in Haft. Ist das zulässig?
Abdolkarim Lahiji: In der Verfassung der Islamischen Republik Iran steht: Wenn jemand verhaftet wird, müssen die Gründe für seine Verhaftung genannt und die Anklage innerhalb von 24 Stunden verlesen werden. Doch dieses Gesetz wird im Iran so gut wie nie respektiert. Dabei macht es auch keinen Unterschied, ob es sich um einen iranischen Staatsbürger oder einen Ausländer handelt. Das heißt: Der Iran respektiert seine eigenen Gesetze nicht.
Laut der Nachrichtenagentur der iranischen Justiz soll der inhaftierte US-Amerikaner Xiyue Wang "streng geheime Dokumente" aus einer Bibliothek archiviert haben ...
Die Vorwürfe gegen ihn könnten absurder nicht sein. Dokumente, die öffentlich zugänglich sind, können nicht streng geheim gewesen sein. Abgesehen davon ist nicht klar, von welchen Dokumenten die iranische Justiz überhaupt spricht.
Wie kann es sein, dass er ein Jahr lang inhaftiert ist, ohne dass die Öffentlichkeit über seinen Fall informiert wird? Wann wurde er vor Gericht gestellt? Wie wurde er verurteilt? Hatte er überhaupt einen Anwalt? All das spricht dafür, dass es sich um einen politischen Fall handelt.
Der Fall passt in ein altes Muster, das immer wieder vom Revolutionsgericht inszeniert wird: Ausländische Bürger - in 90 Prozent der Fälle Iraner mit doppelter Staatsbürgerschaft - werden verhaftet und als Verhandlungsmasse für politische oder wirtschaftliche Gegenleistungen missbraucht.
Der Fall wurde kurz vor der USA-Reise des Außenministers Mohammed Dschawad Sarif öffentlich gemacht. Sarif soll am 17. Juli an einem wichtigen UN-Treffen in New York zum Atomdeal teilnehmen. Sehen Sie da einen Zusammenhang?
Ich habe keinen Zweifel, dass die Justiz dieses harte Urteil gegen einen US-Bürger genau jetzt der Öffentlichkeit mitteilt, um diese Reise zu sabotieren. Im Iran gibt es einen Machtkampf zwischen der reformorientierten Regierung von Hassan Rohani, die das Land öffnen will, und den konservativen Kreisen, die den Sicherheitsapparat und die Justiz unter Kontrolle haben - und die sich gegen jede Art von Annäherung an den Westen, speziell die USA, wehren.
Wir haben in politisch heiklen Situationen immer wieder solche Fälle erlebt. Zum Beispiel, als Jason Rezaian, der Iran-Korrespondent der "Washington Post" in Teheran, während der Atomverhandlungen wegen Spionagevorwürfen verhaftet wurde. Der Fall hat direkte Verhandlungen mit den USA deutlich komplizierter gemacht.
2015 dann wurden Jason Rezaian und vier weitere US-Bürger aus iranischer Haft entlassen, nachdem in den Vereinigten Staaten sieben iranische Gefangene freigelassen wurden und die USA eine Bargeldzahlung von 400 Millionen Dollar an den Iran geleitet hatten. (Anm. d. Red.: Laut US-Behörden handelte es sich um eingefrorenes Geld, dass der Iran 1979 für eine Waffenlieferung auf ein US-Konto eingezahlt hatte.)
Der Machtkampf zwischen Reformern und Konservativen ist nach Rohanis Wiederwahl im Mai noch heftiger geworden. Momentan sind zwei weitere US-Bürger wegen angeblicher Spionage im Iran inhaftiert: Der amerikanisch-iranische Wirtschaftsberater Siamak Namazi und sein 80-jähriger Vater Bagher Namazi, der für die Freilassung seines Sohnes in den Iran gereist war. Wir wissen nicht, was die iranischen Behörden für ihre Freilassung verlangen, aber wir wissen, dass sie die beiden als Geiseln festhalten.
Was kann die internationale Gemeinschaft gegen solche Geiselnahmen unternehmen?
Diplomatische Verhandlungen sind eine Option. Vor vier Monaten wurde ich vom Europäischen Parlament eingeladen, um die EU-Abgeordneten über solche Fälle zu informieren. Einige von ihnen kannten dieses Problem und hatten von ähnlichen Fällen berichtet. Zum Beispiel war die britisch-iranische Staatsbürgerin Nazanin Zaghari-Ratcliffe, einer Mitarbeiterin der Thomson Reuters Stiftung, wegen angeblicher Spionage im Iran verhaftet und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Aber in Wahrheit wurde auch sie als Geisel genommen.
Abgesehen von Diplomatie lässt sich meiner Erfahrung nach im Iran Einiges mit öffentlichem Druck erreichen. Die Öffentlichkeit muss über solche Fälle informiert werden. Je intensiver die Berichterstattung ist, desto größer wird die Chance, dass diese Geiseln frei gelassen werden.
Der iranische Anwalt und Menschenrechtsaktivistin Abdolkarim Lahiji ist Vizepräsident der "Internationalen Vereinigung für Menschenrechte".
Das Interview führte Shabnam von Hein.