Der EGMR als Vorbild für Gerichte in Entwicklungsländern?
12. Februar 2012Zigtausende Fälle landen jedes Jahr in der Poststelle des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und werden von da in die zuständigen Abteilungen weiter verteilt. Der Rückstau an Fällen ist gewaltig. Dabei ist der EGMR nur zuständig für die 47 Staaten des Europarates.
Doch der EGMR hat ein großes Renommee – weltweit. Auch deshalb kommen jedes Jahr zahlreiche Delegationen von Juristen aus aller Welt nach Straßburg, um die Arbeit des Gerichtshofs zu verfolgen. Sie wollen lernen, wie das Gericht arbeitet.
Besuche aus Afrika, Asien und Amerika
Viele kommen jedes Jahr aus der Türkei, berichtet Gerichtspräsident Nicolas Bratza. "Außerhalb des Europarates gibt es Besuche von afrikanischen Gerichten, so zum Beispiel vom Afrikanischen Gerichtshof für Menschen- und Völkerrechte." Auch mit der Afrikanischen Menschenrechtskommission in Gambia, die unter anderem dem Afrikanischen Gerichtshof für Menschen- und Völkerrechte zuarbeitet, unterhält der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Beziehungen, berichtet Patrick Titiun, der Kabinettschef des EGMR-Präsidenten.
Der Afrikanische Gerichtshof für Menschen- und Völkerrechte mit Sitz in Arusha, Tansania wurde 2004 gegründet. Die ersten Richter legten ihren Amtseid erst 2006 ab, die ersten Entscheidungen fielen im Jahr 2009. Er tagt nicht permanent, vielmehr gab es bislang ein paar Dutzend Sitzungen. Es ist also ein sehr junger Gerichtshof, der für ein Gebiet mit ungezählten Verletzungen der elementarsten Menschenrechte zuständig ist. Noch dazu in einem politisch und wirtschaftlich unsicheren Umfeld. Kann man seine Arbeit wirklich mit der des EGMR vergleichen?
Schwierige Vergleiche
"Es ist immer schwierig, zu vergleichen", räumt Patrick Titiun ein. "Aber die Staaten haben ein sehr großes Interesse an den Errungenschaften des EGMR. Das Ansehen des EGMR ist sehr hoch in der Welt."
Dabei darf man nicht außer Acht lassen, dass auch der EGMR seine Rechte, seine Position und seinen Ruf erst erkämpfen musste: Auch das 1959 ins Leben gerufene Straßburger Gericht tagt erst seit 1998 dauerhaft. Nur langsam erweiterte sich seine Zuständigkeit. Und auch die Möglichkeit für den einzelnen Bürger, in Straßburg Beschwerde wegen einer Menschenrechtsverletzung einzureichen, gab es nicht von Anfang an. Junge Menschenrechts-Gerichtshöfe könnten sich an der Entwicklung dieser Institution durchaus orientieren.
Wissenstransfer in beide Richtungen
In der aktuellen Zusammenarbeit mit anderen Juristen geht es um den ganz praktischen Austausch von Informationen und "best practice", erklärt Patrick Titiun: "Sie wollen wissen, wie wir mit der großen Zahl von Beschwerden umgehen. Aber sie sind auch interessiert an unserem Fallrecht." Auch Richter des Obersten Gerichtshof Süd-Koreas oder Japans besuchen Straßburg, ebenso wie Richterdelegationen des Obersten Gerichtshofs von Brasilien.
Der Wissenstransfer geht nicht immer nur in eine Richtung, berichtet Gerichtspräsident Nicolas Bratza: Bei einem Treffen mit dem Präsidenten des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs lernten die Straßburger Juristen viel über Probleme, mit denen Südamerikas Menschenrechtler besonders zu kämpfen haben: Wie untersuchen sie Vermisstenfälle, Misshandlungen oder Tötungen? "Da hatten wir selbst Lernbedarf", so Bratza.
Es sei beeindruckend, Menschen zu sehen, die unter manchmal sehr schwierigen finanziellen Bedingungen versuchen, Menschenrechtsfragen voranzubringen, sagt Patrick Titiun: "Dabei stellen wir fest, dass wir dieselben Werte teilen, obwohl wir auf verschiedenen Kontinenten leben."
Autorin: Daphne Grathwohl
Redaktion: Diana Hodali