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Über Freiheit, Verantwortung, Anstand und Gelassenheit

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Jens Thurau
28. Dezember 2021

Angriffe auf Politiker, die zum Impfen aufrufen. Immer mehr Gereiztheit im Alltag. Haben wir den Verstand verloren? Und warum sind die Vernünftigen so leise? Gedanken zum Ende eines turbulenten Jahres von Jens Thurau.

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Deutschland Gewalt bei Demo gegen Corona-Maßnahmen in Kassel (März 2021)
Wut und Konfrontation sind die Realität in AuseinandersetzungenBild: Thilo Schmuelgen/REUTERS

Zwei Beobachtungen aus einem Jahr, das einen am Verstand zweifeln ließ - an dem der Mitbürger und vielleicht auch am eigenen. Erste Beobachtung: vor einem Corona-Testzentrum in der Warteschlange. Ich (geimpft) hinter einem wild aufgebrachten Mann (nach eigener Aussage ungeimpft) und seiner Frau. Von ihm kommen Sätze und Wortfetzen wie aus einem schlechten Film. Von der Diktatorin Angela Merkel ist die Rede, viel von der Freiheit, von Nebenwirkungen der Impfungen, die verschwiegen werden (von wem ist unklar).

Die Frau überwacht derweil die Warteschlange und prüft die Reaktionen. "Aber das darf man ja nicht sagen", streut sie hier und da ein, obwohl außer ihrem Mann niemand etwas sagt. In der Warteschlange gucken die meisten betreten, einige nicken auch. Es herrscht eine Stimmung von heiligem Ernst, als ginge es um Krieg und Frieden und nicht um den Kampf gegen die Pandemie. 

Meine Freiheit als absoluter Wert

Zweite Beobachtung: Die Fahrerinnen zweier Autos streiten sich um einen Parkplatz. Die Frauen sind ausgestiegen und beschimpfen sich wüst, Handgreiflichkeiten liegen in der Luft. Die Menschen, die das miterleben, gehen achtlos weiter. Sie scheinen sich an solche Szenen gewöhnt zu haben. Willkommen im Deutschland der 2020er-Jahre!

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DW-Hauptstadtkorrespondent Jens Thurau

Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Anders gefragt: Sind die schreienden Parkplatz-Frauen auch ungeimpft oder ist der Mann in der Warteschlange ein rücksichtsloser Autofahrer? Wie auch immer, beide Paare sind Ausdruck ein und derselben Haltung: Ich bin hier und habe ein Anliegen, andere haben kein Recht, auch nur Einwände zu erheben. Ich bin bereit, mich rücksichtslos durchzusetzen. Jederzeit. Freiheit ist ein absoluter Wert. Pflichten kommen zumeist vom Staat und sind unverschämt, schränken ein. Der Staat, überhaupt, besteht nur aus korrupten Politikern und Bürokratie. 

So sind nicht alle Menschen in Deutschland, ich weiß. Aber doch immer mehr. Und die große Mehrheit schweigt dazu, weil sie schon angewidert ist von der Art und Weise der Auseinandersetzung. A redet nicht mehr mit B. Es wird viel geschrien und verdächtigt und bezichtigt. Eigentlich mögen das die meisten Menschen nicht. Ich versuche mich mal an drei möglichen Erklärungen, aber das kann natürlich nur eine unvollständige Auflistung sein.  

Wirtschaft und Arbeitswelt 

Seit vielen Jahren leben auch die Menschen in Deutschland im ungebremsten globalen Turbo-Kapitalismus und tun sich weitaus schwerer als die Menschen in kleineren Ländern, wenn es um die Digitalisierung geht. Viele Menschen fühlen sich schlicht überfordert und reagieren im Alltag dann gereizt. Den Staat mit seiner idealerweise dämpfenden Rahmensetzung und seinen sozialen Netzen empfinden viele als zunehmend hilflos. Wann gab es die letzte wirklich nennenswerte Renten-oder Steuerreform? Wir fahren im rasenden Tempo auf Sicht.

Zweimal in den vergangenen Jahrzehnten haben die beiden Parteien, die Deutschland bisher Kanzler oder Kanzlerin gestellt haben, versucht, wirkliche Reformen durchzusetzen: Anfang des Jahrtausends Gerhard Schröder von der SPD mit seiner Arbeitsmarkt- und Sozialagenda, später dann seine Nachfolgerin Angela Merkel mit der Aufnahme hunderttausender Geflüchteter 2015. In beiden Fällen liefen die Wähler den Parteien in Scharen davon. Der Reformeifer hält sich in der Politik auch deshalb in Grenzen.  

Freiheit und Verantwortung, Rechte und Pflichten 

"So etwas wie eine Gesellschaft gibt es gar nicht" schleuderte die frühere britische Premierministerin Thatcher ihren Mitbürgern vor vielen Jahren um die Ohren. Will heißen: Es gibt nur einzelne handelnde Subjekte, am besten, man versucht, für sich das Beste herauszuholen. Das war lange Zeit die Maxime auch in vielen anderen Ländern, auch in Deutschland. Heute erweist es sich als fatal, dass vor allem die ehemals großen Volksparteien, die Sozialdemokraten und die Christdemokraten, dem nichts entgegengesetzt haben.

Rotes Schild an einer Glasscheibe: Eintritt und Zutritt nach 2G Regel, Geimpft oder Genesen
In der Pandemie geht es nicht nur um den Selbstschutz, sondern auch um die Verantwortung für AndereBild: picture alliance / CHROMORANGE

Aber auch links von der Mitte, etwa bei den Grünen in ihren Anfangsjahren, war viel von persönlicher Selbstverwirklichung, der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen die Rede und wenig von Zusammenhalt, Verlässlichkeit, Pflichten. Das klang schon so spießig, oder? Jetzt aber gibt es drängende globale Probleme, die nur durch das Handeln der Gesellschaften als Ganzes bewältigt werden können: die Pandemie, der Klimaschutz. Was Freiheit in Verantwortung heißt, dass zu Rechten auch Pflichten gehören, ist aber nicht von heute auf Morgen so einfach wieder herzustellen.  

Das gebrochene Wohlstandsversprechen 

Lange Jahrzehnte galt zunächst im Westen und später auch im Osten diese Erzählung: Es wird deinen Kindern in diesem Land einmal besser gehen als dir selbst, du musst dich nur anstrengen. Das war tatsächlich lange so und hatte eine große Strahlkraft. Heute ist das Bild differenzierter: Die bürgerliche Mitte hat in großen Teilen den Glauben verloren, dass das noch gilt. An den Rändern ist die Erzählung schon lange nur noch ein Zerrbild. Extremismus macht sich breit. Und auch hier wieder: Aggressivität, Gereiztheit, befeuert durch bestimmte Soziale Medien.  

Doch einiges hat im abgelaufenen Jahr auch Hoffnung gemacht: Nach der Flutkatastrophe im Sommer im Westen des Landes war die Hilfs- und Spendenbereitschaft der Deutschen berührend. Die Menschen in den Kliniken und Pflegeheimen, bei Feuerwehr und Polizei leisten in der Pandemie Unfassbares. Eine übergroße Mehrheit unterstützt zudem die verwirrenden und oft unübersichtlichen Maßnahmen der Politik - trotz des lauten Gebrülls einiger weniger. Vielleicht schauen wir nach der Pandemie (wann immer das sein wird) mit anderen Augen auf diese Leistungen. Und rücken als Gesellschaft wieder näher zusammen.