Nun ist es also so weit: Wir haben 100.000 Corona-Tote in Deutschland zu beklagen. Hinter dieser gefühllosen Zahl verbergen sich Menschen, von denen die meisten ohne Begleitung ihrer Angehörigen und Liebsten, angeschlossen an Schläuche und Technik in den Intensivstationen regelrecht erstickt sind.
Hinter der Zahl verbergen sich aber auch Abertausende von Medizinern und Pflegekräften, die bis über die Grenzen der Erschöpfung hinaus für das Leben ihrer Patienten gekämpft haben und noch immer täglich kämpfen. Viele von ihnen stehen am Ende des zweiten Pandemie-Jahres kurz vor dem Burnout. Andere haben den Beruf verlassen.
Und hinter der Zahl verbirgt sich die Wahrheit, dass es soweit - zumindest so früh - nicht hätte kommen müssen.
Lockdowns waren erfolgreich
Deutschland hatte sich im internationalen Vergleich ganz gut gegen das Coronavirus behauptet: Die Lockdowns im Frühjahr 2020 und Winter 2020/21 hatten Wirkung gezeigt. Geschockt durch die rasend schnelle Ausbreitung des Virus und die Bilder aus Norditalien und Spanien, wo das Gesundheitssystem hoffnungslos überlastet war, kam das öffentliche Leben im April 2020 fast völlig zum Erliegen.
Die Menschen blieben zu Hause und hielten sich an die empfohlenen Hygiene-Regeln - auch aus Respekt vor denen, die in den Krankenhäusern Dienst am Menschen taten.
Der Erfolg war deutlich: Hohe Inzidenzraten über 500, wie sie etwa in der Tschechischen Republik auftraten, waren uns in den ersten drei Wellen erspart geblieben.
Durch die Zahlung großzügiger Corona-Hilfen konnten die Regierung die schlimmsten wirtschaftlichen Auswirkungen abfedern. Und die Betriebe zeigten sich ungeahnt innovativ bei schnellen Lösungen wie der Einführung von Homeoffice. Doch nun sind wir nachlässig geworden und zahlen dafür den Preis.
Lektion gelernt - und dann ganz schnell vergessen!
Mir sind zwei Momentaufnahmen in Erinnerung: Die erste vom März 2020. Ein mir bekannter LKW-Fahrer für eine große Supermarkt-Kette war damals auf der Autobahn A2 bei Hannover eine halbe Stunde lang unterwegs, bevor ihm das erste weitere Fahrzeug begegnete. Und das auf einer der wichtigsten Verkehrsachsen Europas inmitten einer der wirtschaftsstärksten Industrieregionen Deutschlands.
Die zweite Momentaufnahme ist vom Juli 2021: Eine Autofahrt führte mich damals quer durch Berlin-Kreuzberg. Die Straßen: überfüllt. Die Bürgersteige, Cafés und Restaurants: voller Menschen. Das ganze glich einer riesigen schier endlosen Partymeile. Die Menschen benahmen sich, als hätte es Corona nie gegeben oder als müssten sie nun alles nachholen, was sie im Jahr zuvor verpasst hatten.
Hygienekonzepte nur auf dem Papier
Die beiden Bilder sind symptomatisch für das, was schief gelaufen ist: Im Irrglauben, das schlimmste überstanden zu haben, wurden die Menschen zunächst der Einschränkungen überdrüssig und dann gegenüber der Bedrohung nachlässig.
Das Verlangen gewann die Oberhand, endlich wieder zur Normalität zurückzukehren. Und die Menschen kamen wieder zusammen, zu Dutzenden, Tausenden, Zehntausenden: in der Schule, in Tagungen, Seminaren und Gremien, beim Breitensport, im Nahverkehr, auf Konzerten, in Fußballstadien und zuletzt beim Karnevalsauftakt.
Hygienekonzepte gab es zwar, aber niemand nahm sie mehr sonderlich ernst. Dabei ist längst bekannt, dass auch Geimpfte asymptomatisch erkranken und andere infizieren können. Das gleiche gilt für Kinder und Jugendliche. Perfekte Bedingungen also für die Ausbreitung des Virus.
Hinzu kommt die für den deutschen Sprachraum eigentümliche Impfverweigerung. Spanien und Portugal haben die Lektion der schweren ersten Welle verinnerlicht. Dort sind heute mehr als 80 bzw. 86 Prozent der Bevölkerung geimpft. In Deutschland sind es keine 70, in einzelnen Regionen nur knapp über 60 Prozent.
Versagen beim Schutz der Kinder und ihrer Angehörigen
Während in Israel fleißig auch an Schulen geimpft wird, hängt Deutschland hoffnungslos hinterher. Nicht einmal jeder zweite Minderjährige ab zwölf Jahren ist bislang immunisiert, obwohl sie es längst sein könnten. Die Inzidenzraten unter Kindern und Jugendlichen liegen vielerorts mehr als doppelt so hoch, wie in anderen Altersgruppen.
Doch selbst offizielle Vertreter der Kinder- und Jugendärzte möchten einfach nicht wahrhaben, dass ein Klassenraum mit 30 Schülern auch dann zum perfekten Superspreader-Event wird, wenn auch nur einer von ihnen asymptomatisch infiziert ist. Die Infektionen fänden eher in den Familien statt, sagt etwa Jörg Dötsch von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, weil ja getestet werde. Nur die Wahrheit ist: Die Tests sind fehlerhaft - übrigens auch bei Erwachsenen. Da fragt man sich fassungslos: Wer trägt das Virus denn in die Familien? Das sind doch nicht die geimpften Eltern oder Großeltern!
Rette sich wer kann!
Es ist höchste Zeit umzudenken, auch für die Geimpften unter uns! Nicht alles was derzeit aus Rücksicht auf Geimpfte noch erlaubt ist, müssen wir auch tun. Ist der Besuch auf dem Weihnachtsmarkt wirklich das Risiko wert?
Zwar nimmt das Impfen wieder an Fahrt auf, weil sich immer mehr Menschen zum Glück eine Booster-Impfung verabreichen lassen. Aber die Zahl der Ungeimpften geht gleichzeitig kaum weiter zurück. Doch wer den Schuss bis jetzt nicht gehört hat, der hört ihn auch nicht mehr.
Zurückhaltung ist daher auch für Geimpfte das Gebot der Stunde. Wenn wir nicht noch weitere 100.000 Opfer beklagen wollen, müssen wir uns zurücknehmen. Denn wenn wir schon die hartgesottenen Impfgegner nicht überzeugen können - wenigstens uns selbst sollten wir so gut schützen, wie wir es können.