Am Abend des 9. August 2020 gingen die Menschen in Belarus erstmals auf die Straßen, um gegen eine manipulierte Präsidentenwahl zu protestieren. Seitdem schwebt eine Figur über dem Land wie sonst niemand. Nein, nicht der Langzeitpräsident Alexander Lukaschenko. Auch nicht die Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja. Es ist Wladimir Putin, der de facto vom Moskauer Kreml aus eine provisorische Regierung in Belarus anführt.
Öl, Kredite und "Ryanair"
Der starke Mann in Russland hatte Lukaschenko sofort zu seinem "Sieg" gratuliert und seitdem seinen Einfluss auf den westlichen Nachbarn vergrößert. Lukaschenko trifft Putin regelmäßig. Bei diesen Treffen werden fast immer Kredite oder günstige Rohstofflieferungen an Belarus vereinbart.
Eine etwas ominöse Entwicklung stellen die zunehmenden, gemeinsamen Wehrübungen des russischen und des belarussischen Militärs dar. Weniger sichtbar vonstatten gegangen ist die schleichende Übernahme des belarussischen Geheimdienstes (der sich immer noch stolz "KGB" nennt) durch den russischen Geheimdienst (FSB). Russlands Botschafter in Minsk, Jewgenij Lukyanow, soll angeblich für den sowjetischen KGB und den russischen FSB gearbeitet haben. Nur Tage nach der Entführung einer Ryanair-Maschine nach Minsk und der Festnahme des Oppositionellen Roman Protassewitsch und seiner Partnerin gaben die Geheimdienste beider Länder bekannt, enger gegen den "destruktiven Westen" kooperieren zu wollen. Experten wie der Beobachter Mark Galeotti sind sich sicher, dass der russische Geheimdienst mit dem aus Belarus bei der Entführungsaktion zusammengearbeitet hat. Auch der mysteriöse Tod des belarussischen Aktivisten Witali Schischow, der vor einigen Tagen erhängt an einem Baum im ukrainischen Kiew aufgefunden worden war, wirft die Frage auf, ob hier beide Geheimdienste zusammengearbeitet haben.
Was bezweckt Putin?
Mit solchen Aktionen ist es dem Minsker Regime gelungen, ein Klima geprägt von Angst und Einschüchterung zu schaffen. Es wird weiter gegen Aktivisten ermittelt - kein Wunder, dass Tausende aus dem Land geflohen sind, vornehmlich in die Nachbarländer Litauen und Polen.
Lukaschenko brachte die Konfrontation im Juli auf ein weiteres Level, indem er das Wiederaufnahmeabkommen mit der EU brach und Tausende Flüchtlinge, vor allem aus dem Irak, über die Grenze nach Litauen schickte. Der EU-Mitgliedstaat nannte dies eine "hybride Kriegsführung".
Es ist schwer vorstellbar, dass Lukaschenko dieses aggressive Vorgehen vorher nicht mit Putin abgesprochen hat. Putin hat sicher zugestimmt. Für Russland ist die Unterstützung des belarussischen Regimes eine einfache, effektive und zugleich kostengünstige Art und Weise um zu zeigen, dass man an der Seite seiner Verbündeten steht - und gleichzeitig, um eine echte Bedrohung für die EU darzustellen.
Trotzdem sind Lukaschenkos Gegenspieler, so wie Swetlana Tichanowskaja, zurückhaltend, wenn es darum geht, Putin klar als Player zu benennen. Es ist immer nur die Rede vom Lukaschenko-Regime, das Europa bedrohe. In privaten Gesprächen haben mir manche schon gesagt, es könne sein, dass Putin irgendwann von Lukaschenko genug haben könnte und seinen Rückzug aus der Politik einleiten könnte - damit zu rechnen, dürfte aber ein großer Fehler sein. Was immer der Kreml macht, deutet doch sehr darauf hin, dass sie irgendwann Belarus in der einen oder anderen Form annektieren wollen, auch, wenn es offiziell als Staat auf der Landkarte erhalten bleibt, mit Lukaschenko als Präsident. Putin braucht nicht noch einmal eine Operation durchzuführen wie bei der Annektion der Krim 2014.
Einflussnahme auf Polen und Ukraine
Die Kontrolle über Belarus wird er einfacher gewinnen: Es würde reichen, dass Minsk sich bereiterklärt, den Russischen Rubel als Zahlungsmittel einzuführen und russische Militärbasen in Belarus zuzulassen. Dann wäre Putin derjenige, der die Wirtschaft von Belarus bestimmt und gleichzeitig hätte er einen Brückenkopf, der es ihm erlauben würde, auf die Ukraine im Süden und Polen im Westen Einfluss zu nehmen.
Im Juni endete Putins de facto bestehende, internationale Isolierung, als US-Präsident Joe Biden ihn zum Gipfeltreffen in Genf empfing. Das Treffen ist ein Hinweis darauf, dass weder die USA, noch die EU große Ambitionen haben, diese Entwicklungen in Belarus zu stoppen. Die belarussische Opposition kann das schon gar nicht, denn die meisten sind tot, im Gefängnis oder im Exil.
Als vor einem Jahr die demokratische Revolution in Belarus startete, dachten wohl die wenigsten, dass Lukaschenkos Unverfrorenheit, Putins Geld und die Zusammenarbeit beider Geheimdienste zu einem so starken Ungleichgewicht führen würden, dass am Ende sogar die Existenz des Staates Belarus auf dem Spiel steht.