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PolitikBrasilien

Polizeigewalt in Brasilien ist nicht nur Bolsonaros Problem

27. Mai 2022

In Brasilien löst der Tod eines Motorradfahrers landesweite Proteste aus. Damit sich endlich etwas ändert, müssen Polizeigewalt und Rassismus zu Topthemen im Wahlkampf werden, meint Astrid Prange de Oliveira.

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Weltspiegel 14.05.2021 | Brasilien Rio de Janeiro | Protest gegen Rassismus & Polizeigewalt
"Das schwarze Volk will leben!": Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt im Mai 2021 in Rio de JaneiroBild: Amanda Perobelli/REUTERS

Nein, eigentlich wollte ich nicht mehr über Polizeigewalt in Brasilien schreiben. Denn die Debatte darüber quält mich. Es ist wie bei George Floyd in den USA: Die Ausbrüche rassistisch motivierter Gewalt kehren immer wieder.

Wahrscheinlich geht es vielen Brasilianerinnen und Brasilianern wie mir: Ich fühle mich ohnmächtig, und schaue irgendwann weg. Eine fragwürdige Haltung, ich weiß. Jetzt ist Schluss mit der Verdrängung, es geht nicht mehr.

Denn am 26. Mai starb Genivaldo de Jesus Santos. Der 38-jährige Motorradfahrer wurde am Mittwoch in der Stadt Umbaúba im Bundesstaat Sergipe von der brasilianischen Polizei angehalten, weil er keinen Helm trug.

Erstickt vor laufender Kamera

Filmaufnahmen in den Sozialen Medien zeigen, wie der Mann von drei Polizisten gefesselt und in den Kofferraum eines Polizeiwagens verfrachtet wird. Unter der Klappe ragen seine zappelnde Beine heraus, weiße Rauchwolken dringen nach außen und Schmerzensschreie ertönen.

Wenige Stunden später ist der Mann tot. Auch wenn das Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchung noch nicht vorliegt – aus dem vorläufigen Ergebnis des brasilianischen gerichtsmedizinischen Institutes IML geht hervor, dass der Mann erstickt ist, an Tränengas und Pfefferspray.

Der Tod durch Erstickung "wie in einer Gaskammer" hat in ganz Brasilien wütende Proteste ausgelöst. "Gerechtigkeit für Genivaldo", schreibt ein Twitter-User. Und fügt hinzu: "Einige Motive für die Proteste im ganzen Land sind Inflation, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, steigende Preise für Essen, Energie, mangelnde Sicherheit, die Ermordung indigener und schwarzer Bevölkerung."

Wie kann es sein, dass Polizisten vor laufenden Handykameras einen Mann hinrichten? Die Szene erinnert an den Mord von George Floyd und die vielen anderen Fälle brutaler Polizeigewalt in Brasilien.

Erst vor wenigen Tagen stürmte die Polizei ein Armenviertel in Rio de Janeiro, "Vila Cruzeiro." Die Fatale Bilanz der Jagd auf Drogenhändler: 23 Tote. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro gratulierte der Polizei in einem Tweet für die "Neutralisierung von 20 Kriminellen, die in den Drogenhandel verwickelt sind."

Leider reicht es nicht, die Verantwortung für Rassismus und Polizeigewalt beim brasilianischen Präsidenten abzuladen. "Am Ende des Tages müssen wir uns fragen, ob der strukturelle Rassismus nicht in jedem einzelnen von uns verwurzelt ist", schreibt der brasilianische Journalist Leonardo Sakamoto.

Zu Recht. Rassismus ist kein brasilianisches Problem. Auch wenn Bolsonaro Polizeigewalt verherrlicht und Rassismus befeuert. In Brasilien hat bis jetzt noch kein Politiker seit dem Ende der Militärdiktatur 1989 Polizeigewalt und Rassismus zum Wahlkampfthema gemacht.

Im Gegenteil: Stets sollten Verbrechen und der wachsende Drogenhandel mit mehr Repression bekämpft werden. Die Bilanz dieses Drogenkriegs ist niederschmetternd: Nach Angaben des UN-Büros für Drogen und Verbrechensbekämpfung ist Brasilien mittlerweile zum größten Markt für Kokainkonsum in Lateinamerika aufgestiegen.

Mehrheit der Mordopfer ist schwarz

DW | Astrid Prange De Oliveira, Kommentarbild | PROVISORISCH
DW-Astrid Prange de Oliveira hat lange als Korrespondentin in Rio de Janeiro gearbeitet Bild: Florian Görner/DW

Gestiegen sind auch die Mordraten. 1990 wurden insgesamt 31.000 Menschen in Brasilien ermordet. 2021 waren es nach Angaben des FBSP (Brazilian Forum of Public Security) 41.000 Personen. 76 Prozent der Mordopfer sind schwarz, obwohl der Anteil schwarzer Brasilianer an der Gesamtbevölkerung lediglich 53 Prozent beträgt.

Rassismus ist eine Beleidigung Gottes, würde der ehemalige brasilianische Erzbischof Dom Helder Camara sagen. Der "Rote Bischof" von Recife, der Widerstand gegen die brasilianische Militärdiktatur (1964 bis 1989) leistete, hat den Ausspruch "Armut ist eine Beleidigung Gottes" geprägt.

Rassismus und rassistische Gewalt sollten Wahlkampfthema Nummer eins in Brasilien werden. Die Wählerinnen und Wähler hätten die Chance, mit einer solchen Debatte, die eigene gefühlte politische Ohnmacht und die gefühlte Ohnmacht von Millionen Menschen auf der ganzen Welt zu beenden. 

In Brasilien wird am 2. Oktober nicht nur ein neuer Präsident gewählt, sondern auch ein neuer Kongress, neue Landesregierungen und Landesparlamente von 27 Bundesstaaten. Dies ist eine Gelegenheit zur kollektiven Katharsis. Denn der Kampf gegen die Erblast von Sklaverei und Kolonialismus, die sich bis heute in brutaler Gewalt gegen die schwarze Bevölkerung in Brasilien manifestiert, ist wichtiger als der "Krieg gegen Drogen."

Brasilien: Drogenkonsum in der Corona-Pandemie