Offenes Rennen
Was für ein widersprüchliches Bild: Einerseits plätschert der Bundestagswahlkampf langweilig vor sich hin - bislang keine spannenden Debatten, keine wirkliche Polarisierung zwischen den politischen Lagern. Andererseits wird der Ausgang der Wahl nach jetzigem Stand spannend wie selten zuvor: Weder ist absehbar, wer Angela Merkel im Kanzleramt nachfolgen wird, noch welche Parteien die neue Regierung bilden werden.
Die amtierende Kanzlerin tritt nicht zur Wiederwahl an - das gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Aber das allein erklärt das vollkommen offene Rennen nicht. Es erinnert vielmehr an die US-Präsidentschaftswahl vom vergangenen Jahr: Ein großer Teil des Volkes hadert mit dem zur Wahl stehenden Spitzenpersonal und möchte am liebsten niemand davon im Kanzleramt sehen.
Es wird kompliziert
Die Union mit Armin Laschet und die Grünen mit Annalena Baerbock befinden sich jedenfalls seit Wochen im stetigen Umfragen-Sinkflug. Der lange als völlig chancenlos abgeschriebene Olaf Scholz entpuppt sich dagegen als die Überraschung des Sommers und zieht mit seinen Sozialdemokraten in einer ersten Umfrage sogar an der Union vorbei - das gab es seit 15 Jahren nicht mehr!
Doch weil selbst diese drei derzeit stärksten Parteien bei nur noch wenig mehr als 20 Prozent oder knapp darunter herumdümpeln, reicht es absehbar für keine der in den vergangenen 25 Jahren praktizierten Zweierkoalitionen. Das traditionell "Große Koalition" genannte Regierungsbündnis aus Union und SPD ist schon lange nicht mehr groß. Was im Umkehrschluss bedeutet: Es wird kompliziert. Politisch vorstellbar sind insgesamt vier Dreierkoalitionen - eine Liebesheirat wäre keine von ihnen.
Die Regierungsbildung vor vier Jahren bot da schon einen Vorgeschmack: Wochenlang verhandelten Union, Grüne und Liberale und scheiterten am Ende doch. Und so könnte es durchaus sein, dass jene recht behalten, die am vergangenen Silvesterabend prognostizierten, Angela Merkel werde auch noch eine 17. Neujahrsansprache halten. Nicht weil sie ihren seit langem angekündigten Rückzug aus der Politik rückgängig mache, sondern ohne Wahl eines Nachfolgers als geschäftsführende Bundeskanzlerin immer noch im Amt sei.
Fragile Koalition mit schwachem Kanzler
Die Deutschen könnten es mit Fassung tragen - das Land funktioniert einige Monate auch ganz gut ohne richtige Regierung: Polizei, Gerichte, Ämter, Schulen und Universitäten machen trotzdem ihre Arbeit; Beamte, Rentner und andere Leistungsempfänger bekommen weiterhin ihr Geld. Mit einem Shutdown in den USA ist solch eine Situation jedenfalls nicht vergleichbar. Am meisten würde zweifellos die EU leiden, in der ohne ein handlungsfähiges Deutschland normalerweise nur wenig voran geht.
Viel entscheidender aber ist: Egal welche Koalition mit welchem Kanzler an der Spitze am Ende eines solch quälenden Prozesses herauskommt - sie wird ein fragiles Gebilde sein. Und den Chef oder die Chefin vor allem zu Hause in Beschlag nehmen, um den Laden zusammenzuhalten. Die Putins, Erdogans, Xi Jinpings und auch die Bidens dieser Welt aber haben hierfür ein sehr feines Gespür. Und das werden sie Deutschland merken lassen. Schlechte Aussichten für einen starken und international einflussreichen Kanzler als Nachfolger von Angela Merkel.