1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Unsere Kinder endlich ernster nehmen

Thurau Jens Kommentarbild App
Jens Thurau
23. Mai 2021

Die Infektionszahlen sinken, Deutschland lockert sich. Auch die Schulen öffnen nach und nach. Zeit für ein Fazit: Schülerinnen und Schüler haben in der Pandemie viel gegeben, aber wenig zurückbekommen, meint Jens Thurau.

https://p.dw.com/p/3tkIy
Ein Mädchen mit ausgebreiteten Armen und Schulrucksack zu ihren Füßen steht in einem bunten, aufs Pflaster gemalte Kreisornament auf einem Schulhof
Abstand halten und sich nicht mit Freunden treffen - das trifft Kinder und Jugendliche hartBild: Orhan Cicek/AA/picture alliance

Die Sprüche fehlen in keiner guten Politiker-Rede, schon vor und auch während der Pandemie: Die jungen Menschen in Deutschland sind unser Kapital, Bildung ist der Rohstoff des Export-Champions Bundesrepublik. Beispiele gefällig? "Kinder dürfen nicht die Verlierer der Corona-Pandemie sein" (Kanzlerin Angela Merkel im September vergangenen Jahres). Ähnliche Sätze kamen von allen Ministerpräsidenten, Parteivorsitzenden, Ministern. Immerhin Vize-Kanzler Olaf Scholz, Finanzminister in der derzeitigen Regierung, hat jetzt eingeräumt: Die Schließung der Schulen im ersten Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 war ein Fehler. "Das war eine Entscheidung, die ich sehr schwierig gefunden habe", sagte Scholz mit Blick auf die Belastungen für Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern. Immerhin einer sagt das.

Seit über einem Jahr werden Schülerinnen und Schüler, Lehrer und Eltern zwischen Präsenz-, Distanz- und Wechselunterricht hin- und hergerissen. Von Bundesland zu Bundesland waren die Bestimmungen dabei verschieden und verwirrend, Bildung ist in Deutschland schließlich Ländersache. Dann endlich, Mitte April diesen Jahres, wurden die Anordnungen vereinheitlicht, bei einer Inzidenz über 165 blieben die Schulen und Kindertagesstätten zu. Wieder einmal.

Berlin bleibt einfach beim Wechselunterricht

Jetzt sinken die Infektionszahlen rapide, die Länder dürfen wieder allein über ihr Tun entscheiden. Und den Schülern wird zumindest in Aussicht gestellt, auch schon vor den Sommerferien wieder zur Schule gehen zu können, etwa in Nordrhein-Westfalen, aber auch in Brandenburg und anderen Ländern. Nicht aber in der Hauptstadt, in Berlin. Dort bleibt es bis zum Beginn der Sommerferien am 24. Juni beim Wechselunterricht - also bei einer begrenzten Zahl von Kindern in der Schule, während die anderen zuhause bleiben. Egal, wie stark die Inzidenz sinkt.

Thurau Jens Kommentarbild App
DW-Hauptstadt-Korrespondent Jens Thurau

Zeitgleich öffnen Gaststätten im Außenbereich wieder, werden Kulturveranstaltungen nach und nach möglich. Die Begründung des Berliner Senats für die fortdauernden Beschränkungen für die Schulen spricht Bände: Schüler, Lehrer und Eltern müssten Luft schnappen, dürften nicht überfordert werden. Wir können nicht mehr, heißt das kurz zusammen gefasst, wir lassen jetzt alles so, wie es ist und fangen nach den Sommerferien neu an.

Das ist ein Offenbarungseid für die Politik. Schon vor der Pandemie war der Zustand vieler Schulen schlimm, waren Lehrer überfordert und Eltern ratlos. In der Pandemie hat sich das potenziert. Die digitale Ausstattung vieler Schulen ist ein Hohn für ein so reiches Land wie Deutschland, zudem wurden Schülerinnen und Schüler von nicht wenigen Politikern immer wieder ungeniert als Infektions-Treiber Nummer Eins hingestellt, ohne das genau belegen zu können. Selbst die Kanzlerin schlug zwischendurch vor, dass sich Kinder nur noch mit einem Freund oder einer Freundin treffen durften - eine seltsam lebensfremde Idee, die dann auch schnell kassiert wurde. Und doch zeigte, welchen Stellenwert junge Menschen in Deutschland wirklich haben.

Das "Aufholprogramm": ein bezeichnender Name

Natürlich musste die Pandemie auch in den Schulen bekämpft werden, aber es blieb der Eindruck, dass kaum ein Bereich mit solcher Härte angepackt wurde wie der der Schulen und Kitas. Zeitgleich wurden alle Ideen, es den Schülerinnen und Schülern leichter zu machen, etwa Prüfungen einfacher zu gestalten, in Bausch und Bogen abgelehnt. Jetzt will die Regierung mit einem Zwei-Milliarden-Programm helfen: Geld für bessere Nachhilfe, Geld für dringend benötigte psychologische Unterstützung.

Schulaula mit vereinzelten Tischen zur Abiturprüfung aus der Vogelperspektive
Von oben sehen die diesjährigen Abiturprüfungen aus wie jedes Jahr - bei Klausuren gilt immer "Abstand halten!"Bild: Sebastian Kahnert/dpa-Zentralbild/dpa/picture alliance

Bezeichnenderweise wurde die Maßnahme "Aufholprogramm" genannt. Es sind schließlich die Schüler, die jetzt aufholen müssen. Und bezeichnend ist auch, wie die Regierung mit dem Rücktritt der Familienministerin Franziska Giffey von der SPD in dieser Woche umgeht: Justizministerin Christine Lambrecht macht den Job bis zur Bundestagswahl einfach mit. Kaum vorstellbar, dass man so mit dem Auswärtigen Amt umgesprungen wäre.

Mehr Respekt vor einer wichtigen Lebensphase

Es bleibt die Hoffnung auf die Zeit nach der Pandemie: Deutschland muss die Bildung, muss Schulen, Eltern und Lehrer endlich ernster nehmen. Alle Bevölkerungsgruppen haben in der Pandemie gelitten, unter Kontaktverboten, Einschränkungen. Aber Kinder, Schülerinnen und Schüler hat die Corona-Krise in einer entscheidenden Phase ihrer Lebens getroffen: In einer Zeit, in der sich Persönlichkeiten entwickeln, Freundschaften fürs Leben bilden. All das findet statt in Schulen und Kindertagesstätten. Es wäre wirklich ein Trost, wenn die Pandemie (wenn wir sie denn hoffentlich bald hinter uns haben) wenigstens das bewirkt: dass wir unsere jungen Menschen und ihre Bedürfnisse ernster nehmen.