Historische Entscheidung in Chile
Kein Zweifel: An diesem Sonntag erlebte Chile einen historischen Tag. Dieser Satz mag zwar wie eine Phrase klingen, lässt sich aber selten besser begründen als in diesem Fall. Fast 80 Prozent der Wähler votierten für eine Reform der Verfassung, die noch aus Zeiten der bereits vor 30 Jahren zu Ende gegangenen Diktatur Augusto Pinochets stammt.
Bei den Massendemonstrationen in Chile vor einem Jahr war der Ruf nach einer neuen und vor allem deutlich sozialstaatlicheren Verfassung eine der zentralen Forderungen. Unter dem massiven Druck der Straße stimmte Präsident Sebastián Piñera schließlich einem Referendum zu. Jetzt haben die Bürger Chiles ein eindrucksvolles Signal für ganz Lateinamerika gegeben: Selbst größte Unzufriedenheit über extreme soziale Ungleichheit kann in einen friedlichen und demokratischen Prozess münden.
Erhobenen Hauptes zur Abstimmung
Schon am frühen Sonntagmorgen waren Tausende auf den Straßen des Landes unterwegs, um ihre Stimme abzugeben. Die hygienischen Vorgaben wurden auch in den langen Schlangen vor den Wahllokalen penibel beachtet, da viele fürchteten, dass das Referendum sonst zu einem neuerlichen Anstieg der Corona-Infektionen führen könnte.
Die Bürger kamen aber nicht nur mit Atemmasken, sondern auch mit erhobenem Kopf an die Urnen. Nach einem Jahr gewaltsamer Proteste herrschte am Wahltag im ganzen Land ein unausgesprochener Waffenstillstand, um das Tor zu einer Gesellschaft mit mehr sozialer Verantwortung sowie Gleichberechtigung auch für die Indigenen zu öffnen. Das war ein eindrucksvolles und keineswegs selbstverständliches Signal angesichts von 8.575 registrierten Verletzungen der Menschenrechte, die von den Ordnungskräften während der Proteste begangen wurden.
Zugleich ist das ein Sieg der Zivilgesellschaft, die ohne sichtbaren Anführer und jenseits der Parteistrukturen nicht nur die amtierende Regierung, sondern das bisherige System vor sich hergetrieben hat. Ausdruck fand diese Stimmung in dem Lied, das am Abend des Wahltages an allen Ecken der Hauptstadt zu hören war: "Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden". Eine neue Chance für die Demokratie in Chile und ein blindes, fast rührendes Vertrauen in die Institutionen des Staates.
Kein Blankoscheck
Die überwältigende Mehrheit von fast 80 Prozent sollte jedoch nicht als Blankoscheck gewertet werden. Sie ist eine Verpflichtung für alle politischen Lager und nur ein erster Schritt auf dem langen Weg des Wandels, den Chile braucht. Dieses Referendum war schließlich noch nicht das Ende, sondern ist nur der Beginn eines langwierigen Prozesses.
Der klare Sieg der Befürworter einer Verfassungsreform ist zwar wichtig, aber nicht das Allheilmittel aller Übel, als den manche ihn verkaufen wollten. Denn die Chilenen sind an diesem Montag in einem Land aufgewacht, das noch genauso ungleich ist wie am Sonntag und wie schon in den 30 Jahren zuvor. Auch wenn die simple Wahrheit schmerzen mag: Soziale Gerechtigkeit wird nicht durch Plebiszite zur Realität!
Noch viel Geduld nötig
Die tiefgreifenden Reformen, die das chilenische Volk fordert, können nur Schritt für Schritt erreicht werden. Und sie erfordern mehr als nur neue Gesetzes- und Verfassungstexte. Es braucht noch viel Geduld der Bürgerinnen und Bürger aber vor allem auch den unerschütterlichen und dauerhaften Willen der politischen Klasse zum Wandel.
Dem chilenischen Volk darf man in diesem Zusammenhang vertrauen - es hat mit dem friedlichen Referendum seine Reife nachhaltig unter Beweis gestellt. Mit Blick auf die Politiker muss man noch die Daumen drücken und hoffen, dass sie den Herausforderungen dieses historischen Moments und des vor uns liegenden Reformprozesses gewachsen sind.