Das war knapp. Der deutsche Katholizismus hat während der vergangenen Tage in den Abgrund geschaut. Denn bei seiner vierten Synodalversammlung stand der sogenannte Synodale Weg, 2019 gestartet zur Eindämmung der gewaltigen Krise angesichts des Missbrauchsskandals, zwischenzeitlich vor einem Scherbenhaufen.
Was war passiert im Saal "Harmonie" des Kongresszentrums an der Frankfurter Messe? Die 230 Delegierten der Vollversammlung, darunter die 69 Bischöfe des Landes, sollten über eine Grundlegung für eine erneuerte Sexualethik abstimmen.
Da ging es unter anderem um eine Anerkennung von Homosexualität und weiteren Lebensformen wie Transsexualität, um nach kirchlicher Lehre verbotene Verhütung durch Pille oder Kondom, um Selbstbefriedigung und Freude an Beziehung und Sexualität.
Diese Grundlegung stellt manches in Frage, was die katholische Kirche während der vergangenen 50 Jahre geradezu innig in Stein gemeißelt hat, was scheinbar wichtiger wurde als jede geistliche Auseinandersetzung mit der Gottesfrage. Und als dann entschieden wurde, nutzte eine überraschend große Zahl von Bischöfen die geheime Abstimmung für ein "Nein".
Grundsatzpapier statt Reformen
Die Bischöfe, die dafür sorgten, dass die notwendige Zweidrittelmehrheit von bischöflicher Seite verfehlt wurde, blieben unbekannt. Und sie vernichteten den letzten Rest von Hoffnung auf Veränderungen, mit dem sich gerade jüngere Katholikinnen und Katholiken noch für Reformen engagieren.
Am Abgrund – das ist die Lage der Kirche in diesen Tagen. Dass es in Frankfurt keine weiteren Eskalationen gab, war vor allem dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, geschuldet, der wieder und wieder die Herren Bischöfe hinter verschlossenen Türen auf Abstimmungen einschwor.
So verabschiedeten die Delegierten ein Grundsatzpapier zur Rolle der Frauen in der Kirche, einen Handlungstext zur Neubewertung von Homosexualität und einen Beschluss zur Verstetigung eines Synodalen Rates von Laien und Bischöfen. Jedes Element – bislang zumeist Absichtserklärungen oder Vorschläge - für katholische Verhältnisse revolutionär. Immerhin.
Das gilt auch für die Frage eines Synodalen Rates. Für Außenstehende mag das wenig spannend wirken. Aber dahinter steckt weit mehr, denn es geht um die Aufteilung von Macht. Wenn überhaupt etwas diesen Dialogprozess noch retten kann, dann ist es genau das: Mehr Ehrlichkeit, mehr Kontroversen, mehr Spannung und Bereitschaft, diese auch auszuhalten.
Diese Unruhe und Orientierungssuche steht für die Frage nach der Relevanz der Kirche für die Welt von heute. Und deutlich ist: Nur reden hilft nicht mehr. Die Kirche arbeitet geradezu schmerzhaft auf Veränderungen hin. Das verdeutlichte der Synodale Weg der vergangenen Tage in Frankfurt.
"Tradition zum Leuchten bringen"
Es war verstörend zu erleben, wie sehr eine Zahl von Bischöfen in das Prinzip dieses Synodalen Weges nicht hineinfindet und vielleicht auch nicht hineinfinden will. Der Aachener Bischof Helmut Dieser brachte es auf den Punkt.
Er hätte sich ja selbst für konservativ gehalten, denn er wolle die Tradition "zum Leuchten bringen". Aber "die konservative Seite hier macht ihre Arbeit nicht gut genug: Polemik, Selbstreferenz, Verzögerung, Verlagerung. Das genügt nicht", so Dieser.
Das lässt erahnen, was bis zur Schlussetappe des Synodalen Weges im März 2023 und dann erst recht bei den Debatten auf Weltebene im Jahr 2023 zu erwarten ist. Denn im Herbst 2023 soll eine Weltsynode in Rom die Reformfragen behandeln.
Der Ruf nach Reformen ist mittlerweile global. Das Lästern jener, die nur die deutschen Katholiken aus dem Lande der Reformation als abgedrehte Revoluzzer sehen, wird leiser. Denn aus immer mehr Ländern aus unterschiedlichen Erdteilen kommen ähnliche Überlegungen, Wünsche und Forderungen.
2023 wird für die katholische Kirche in Deutschland und auch weltweit also entscheidend sein. Entweder die Kirche hat in ihrer großen Mehrheit den Mut zu einer Anpassung an die Moderne - oder sie lässt es bleiben.
Aber dann soll Kirche nicht mehr so tun, als läge ihr das Heil aller Gläubigen am Herzen, als wollte sie die Menschen mitnehmen, als wäre sie auf einem Weg unterwegs als "pilgerndes Volk Gottes" – also Kirche in Bewegung. Frankfurt - man ahnte es in den Stunden am Abgrund der Debatte – mag die aller letzte Gelegenheit gewesen sein, als Kirche in Deutschland mutig zu sein. Und es ist höchste Zeit.