Unter der Römerbrücke im Centovalli
21. August 2017Jedes Jahr, einmal oder zweimal, gehe ich nun diesen Weg hinab. Das kleine Städtchen Intragna und seinen großen Glockenturm (mit 65 Metern der höchste im südschweizerischen Kanton Tessin) habe ich hinter mir gelassen. Das Rauschen kurvender Autos auf kurvigen Bergstraßen wird schnell vom Urwald geschluckt. Ja, eine Art Urwald ist es, durch den ich hinab steige, Palmen und Bergwälder liegen im Tessin eng beieinander. Im Sommer überschlagen sich die Grillen, ein Crescendo an Zirpen begleitet mich. Ich steige unzählige überwachsene Steinstufen hinab, dann liegt sie vor mir - die Römerbrücke.
Sie heißt zwar Römerbrücke (oder "ponte romano"), wurde aber gar nicht von den Römern gebaut, sondern erst 1587. Ab dem späten Mittelalter führte der Maultierpfad Richtung Italien über diese steinerne Bogenbrücke, die den Fluss Melezza überspannt. Aber die Vorstellungskraft triumphiert. Man kann sich auch ohne weiteres römische Legionäre auf ihr vorstellen.
Hundert Täler und ein Fluss
Nun könnte ich den Aufstieg zum autofreien Städtchen Rasa wagen, aber ich biege rechts ab und nehme den steilen Weg hinunter zum Fluss. Ich muss die Hände benutzen, um das Gleichgewicht zu halten. Und ärgere mich, dass ich diesmal nur Badeschlappen angezogen habe.
Die Melezza ist der Hauptfluss des Centovalli, auf italienisch bedeutet das "Hundert Täler". Der Klang allein verheißt Abenteuer - und tatsächlich liegt in Intragna auch das Zentrum für Adventuresport - für Bungeejumping und Canyoning. Die Insubrische Linie verläuft durchs Centovalli, geologisch befinde ich mich also an der Grenze von der afrikanischen und alten europäischen Kontinentalplatte. Wer über die vielen glatten Steine nahe des Flussbettes klettert, muss sich konzentrieren. Der Vater eines Freundes ist beim Klettern durchs Flussbett abgestürzt und dabei fast gestorben. Er wurde schwer verletzt geborgen. Nicht daran denken, ein Stein nach dem anderen.
Unter Wasser
Dann eröffnet sich das große türkisfarbene Becken, direkt unter der Brücke, wo der Fluss den Felsen in jahrhundertelanger Kleinarbeit schleifend seine Form abgerungen hat. Das Wasser ist kristallklar, beim Eintauchen gefrieren die Hautzellen allesamt. Für eine Sekunde oder zwei wird der Alterungsprozess des Körpers ausgesetzt. Dann schnappe ich nach Luft und paddle und pruste. Das Glück muss nicht erst kommen, es ist schon da.
Gefühlte habe ich Stunden meiner Kindheit und Jugend unter Wasser verbracht. Die eiskalten klaren Flüsse in Südfrankreich und der Schweiz waren meine Refugien. Eine kleine Wasserfrau... Kinderbuchautor Ottfried Preußler ("Der kleine Wassermann") hätte sicher seine helle Freude an mir gehabt. So viel meine Lungen hergaben, bis die Lippen blau waren und die Zähne klapperten, tauchte ich. Die Welt war leise unter Wasser, aber auf rätselhafte Weise ganz mein. Später, wenn ich mich mit dem ganzen Körper an den sonnenwarmen Felsen schmiegte, kamen die Gedanken zur Ruhe. Das geht mir noch heute so.
Alt werden im Tessin
Manchmal stelle ich mir vor, dass auch Alfred Andersch oder Max Frisch aus dem Nachbartal über die Isorno hier hinüber wanderten. Beide Schriftsteller hatten Häuser im benachbarten Onsernone-Tal. Der Protagonist von "Der Mensch erscheint im Holozän" wandert bei Nacht und Dauerregen, nicht ins Centovalli, sondern ins Maggiatal. Diese Erzählung, mit der Frisch in den USA berühmt wurde, kann einen das Fürchten lehren - vor dem wilden Tessin und vor dem Alt werden. Max Frisch verbrachte viel Zeit in Berzona, Alfred Andersch wurde hier beigesetzt. Ob die beiden in ihren späten Jahren noch in den kalten Flüssen badeten? Es wird ein Geheimnis bleiben.
Natur ist nirgends
Dieses Jahr hat meine kleine Tochter das erste Mal unter der Ponte Romano gebadet. Geprustet und gegluckst. Ein paar Jungs kraxelten an den steilen Felsen und sprangen unter großem Geschrei ins kalte Wasser. Bald wird sie auch dabei sein. Unterdessen fließt der Fluss unbeeindruckt weiter.
Die Natur scheint unberührt, aber wir eignen sie uns an - auf immer neue Weise. Bei meinem letzten Besuch erschien plötzlich ein kleiner Quadcopter über der Brücke, er hielt kurz an, drehte sich nach allen Seiten. Dann war die kleine Drohne verschwunden. Ich konnte weder erkennen, wer sie steuerte, noch wohin sie verschwand. Ein kleines Schaudern an einem heißen Sommertag, ein bisschen neue Welt mitten in der archaischen. Vor ein paar Tagen habe ich im Internet auf den Seiten des Tessiner Kulturgüterindex ein neues Foto der Ponte Romana gefunden. Vielleicht hat das ja die Drohne geschossen - schwebend über dem Schweizer Urwald.