Mein Europa: Reform oder Lippenbekenntnis?
7. Februar 2020Am 5. Februar hat die neue Europäische Kommission ihren Vorschlag zur Reform der Erweiterungspolitik, genauer der Methodologie der Beitrittsverhandlungen für die Länder des Westbalkans der Öffentlichkeit vorgestellt. Die "Reform" war notwendig geworden aufgrund der Totalblockade der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien durch den französischen Präsidenten Emanuel Macron auf dem Brüsseler Gipfel im Oktober vergangenen Jahres. Traut man Aussagen französischer Regierungsvertreter ist vorsichtiger Optimismus angebracht, dass Paris im Frühjahr den Weg für die beiden Balkanländer freimachen wird.
Kommunikationsoffensive
Das Papier enthält überraschend viel Positives, das zu einer ernsthaften Wiederbelebung der Erweiterungspolitik führen könnte: Der Kommissionsvorschlag enthält das stärkste, politisch begründete Bekenntnis der EU zur Erweiterung auf dem Westbalkan seit vielen Jahren. Es erkennt erstmals an, dass die EU mit ihrer Erweiterungspolitik ein starkes Mittel zur Förderung von Demokratie zur Verfügung steht. Es erkennt Reformkonditionalität als zentrales Mittel dieser Politik an. Erstmals wird ausdrücklich auf die Möglichkeit der Sanktionierung von Reformrückschritten hingewiesen.
Die Kommission schlägt die Einführung sogenannter "umgekehrter qualifizierter Mehrheitsentscheidungen" über Sanktionen vor. D.h., es bedarf einer Mehrheit an Mitgliedsstaaten, um Sanktionen zu verhindern - eine Neuigkeit in der bisher auf Einstimmigkeit beruhenden Erweiterungspolitik. Schließlich deutet die Kommission erstmals eine direktere Kommunikation der EU mit den Bürgern und Bürgerinnen der Westbalkanländer - den eigentlichen Unterstützern der EU-Integration - an. Zugleich verpflichtet sie die Regierenden, das strategische Ziel der EU-Mitgliedschaft gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern zu kommunizieren. Sie macht diese Kommunikation zur Bedingung im Erweiterungsprozess.
Vor zu viel Euphorie ob des Kommissionsvorschlags und seiner Langzeitwirkung ist jedoch zu warnen. Denn letztendlich ist das Papier eine erzwungene Reaktion auf ein nicht existierendes, bzw. falsch angegangenes Problem: Die Macron‘sche Totalblockade der Erweiterung stellte einen Akt europapolitischer Verantwortungslosigkeit dar. Unverantwortlich war der Zeitpunkt der Einforderung einer Reform der Erweiterungspolitik - nach zweimaliger von Macron erzwungener Verschiebung der Entscheidung zu Nordmazedonien und Albanien.
Andererseits in seiner grundlegenden Forderung - zuerst interne Reform der EU, und erst danach Fortsetzung der Erweiterung. Unverantwortlich war schließlich auch Macrons faktisch falsche Kritik der bisherigen Erweiterungspolitik, eine Folge der traditionellen französischen Ignoranz der Erweiterungspolitik zur Westbalkanregion, aus der sich Paris für über ein Jahrzehnt politisch zurück gezogen hatte. Eine Ignoranz, der auch die gefährliche Unterstützung Macrons für ein Gebietstaustauschabkommen in den Brüsseler Verhandlungen zwischen Serbien und Kosovo 2018/19 zugrunde lag. In einem eilig im November verfassten non-paper versuchte die französische Administration, Macrons einseitiges Eingreifen in die Erweiterungspolitik nachträglich mit politischem Inhalt zu füllen - weitgehend vergeblich.
Mehr Demokratie als Wirtschaftsreform
Der nun vorgelegte Vorschlag der Kommission ist der klare Versuch, die problematischsten Elemente des französischen non-papers teils umzukehren, teils entscheidend abzuschwächen.So will die Kommission Schaden für die EU im Westbalkan abwenden, bei gleichzeitiger Gesichtswahrung für Macron. So wurde der Schwerpunkt auf Wirtschaftsreformen im Pariser Vorschlag ersetzt durch den Fokus auf Demokratie - ein Begriff, der erschreckend im non-paper vollständig fehlte. Die vorgeschlagene thematische Zusammenfassung der Beitrittsverhandlungskapitel soll nun nicht mehr auf einer phasenweisen Eröffnung von Kapitelgruppen beruhen.
Diese hätte eine grundlegende Umstrukturierung des Beitrittsprozesses bedeutet. Die Einführung zusätzlicher ökonomischer Anreize wurde deutlich abgeschwächt. Zusätzliches Geld für die Regierungen im Westbalkan ist erfahrungsgemäß ein untaugliches Mittel. In den Ländern der Region ist die Ökonomie weitgehend unter Kontrolle der partei-staatlichen Eliten geblieben. Es dominieren kurzfristige, korrupte Machtinteressen über volkswirtschaftliche Bedürfnisse. Geblieben ist, dass weder das französische non-paper noch der Kommissionsvorschlag auf einer Analyse der Ursachen der weitgehenden Wirkungslosigkeit der bisherigen Erweiterungspolitik beruhen.
Gibt Macron die Beitrittsblockade auf?
Denn das Kommissionspapier zielt zwangläufig am Kernproblem der Erweiterungspolitik der Union auf dem Westbalkan vorbei. Dieses liegt nicht in der existierenden Methodik des Beitrittsprozesses bzw. den Instrumenten. Seine Lösung ist daher nicht in einem Wechsel der Methoden zu finden. Sondern im fehlenden politischen Willen der EU, der Brüsseler Institutionen wie der Mitgliedsstaaten, von diesen Instrumenten konsequent Gebrauch zu machen. Macron hat trotz aller Ignoranz dieses politische Problem benannt, ist es aber nicht angegangen.
Das neue Papier und der neue Ansatz der EU werden wahrscheinlich möglich machen, dass Macron seine Blockade der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien aufgibt. Die entscheidende Frage ist aber, ob das Kommissionspapier wirklich eine Wende in der Erweiterungspolitik einleiten kann. Ungelöst bleibt vor allem der dahinterliegende, viel grundsätzlichere Konflikt - v.a. zwischen Frankreich und Deutschland - um die Zukunft der EU. Unbeantwortet bleiben die Grundsatzfragen: Was für eine EU wollen wir - eine politische Union oder eine Wirtschaftsgemeinschaft? Sowie - Where does Europe (EU) end?
Bodo Weber ist Senior Associate des Democratization Policy Council (DPC), einer transatlantischen Denkfabrik mit Sitz in Berlin.