Mein Europa: Die Angst hat große Augen
27. Januar 2017Zeigen oder nicht zeigen? Das ist hier die Frage. Gewalt, Sex, Fäkalien - im Kino hat es schon alles gegeben. Dennoch schaffte es die Aufführung des Films "Smolensk" von Antoni Krauze zur Jahreswende in den deutschen Kinos einige Wochen lang, nicht nur Filmfans in Atem zu halten. Aber was ist so kontrovers daran, diesen Film zu zeigen? Zur Erinnerung: "Smolensk" ist eine fiktive Erzählung über die journalistische Aufarbeitung des Absturzes des polnischen Regierungsflugzeuges im Jahre 2010. Dabei kamen der damalige Präsident, seine Frau, viele hochrangige Politiker und Militärs ums Leben. Die Filmemacher deuten an, es sei ein Anschlag der Russen gewesen. Über die Schwächen des Films wurde schon viel geschrieben. Als ich ihn sah, hatte ich aber den Eindruck, es geht hier um etwas anderes: "Smolensk" ist Traumabewältigung.
Ein Trauma ist eine psychische Verletzung, ausgelöst durch ein erschütterndes Erlebnis. Oft ruft es dauerhafte Ängste hervor. Es macht keinen Sinn, einem traumatisierten Menschen zu erklären, er brauche keine Angst zu haben oder er rede Unsinn. In der Traumabewältigung wendet man sich den Emotionen zu. Sie richten sich nach keiner Logik und geben rationalen Argumenten nicht nach.
Panzer sind kein gutes Zeichen
Das polnische Kollektivtrauma, das der Film meiner Meinung nach ausdrückt, geht über die Tragödie von Smolensk hinaus. Es schreibt sich ein in die uralte Angst vor Russland, und in breiterer Perspektive auch vor Deutschland. Es ist die Angst einer mittelgroßen europäischen Nation vor der Vereinsamung in einer Welt, die als ewiger Kampfplatz der Großmächte wahrgenommen wird. Viele Polen spüren, dass ihr Land zu schwach ist, nicht nur, um in diesem Kampf zu gewinnen, sondern auch, um ihn zu überleben.
Sicherlich löste deshalb vor Kurzem die Ankunft amerikanischer NATO-Soldaten, die dauerhaft in Polen stationiert werden, sowohl unter Anhängern als auch Gegnern der derzeitigen Regierung Enthusiasmus aus. Die US-Armee soll der Garant für Sicherheit sein, den Polen nie hatte.
Für mich sind Panzer, die über die Straßen meiner Heimat rollen, kein gutes Zeichen. Man muss sicherlich auch nicht daran erinnern, an wie vielen Orten der Welt die US-Armee stationiert war und hinterher wieder abgezogen wurde. Aber ähnlich wie mit "Smolensk" geht es hier nicht um Rationales, sondern um Emotionen.
Trauma – und wie geht es weiter?
Europa als Republik im Sinne der Politologin Ulrike Guérot bedeutet Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und soziale Gerechtigkeit auf dem ganzen Kontinent. Nationalstaaten, die nicht mit den Traumata ihrer Bürger zurechtkommen, verlören ihre Daseinsberechtigung. Stammt die Angst der Polen vor ihren Nachbarn denn nicht auch aus jener nationalen Narration, in der diese mittelgroße Nation stärkeren und zahlenmäßig überlegenen Nationen gegenübersteht? Wenn man sich auf Regionen beriefe, würde das Problem da nicht von selbst verschwinden?
Damit das Projekt Europa aber gelingen kann, sollte man Emotionen als vollwertiges Element des politischen Lebens behandeln. Wie man das tut, erklärt das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation von Marshall Rosenberg. Der 2015 verstorbene Psychologe sammelte jahrelang Praxiserfahrung in der Konfliktmediation in Palästina und auf dem Balkan. Rosenberg schlägt vor, man solle in einem Konflikt darauf verzichten festzustellen, wer Recht und wer Unrecht habe. Stattdessen sollte man seine Aufmerksamkeit den eigenen Gefühlen zuwenden: sie aussprechen, prüfen, welches die eigenen Bedürfnisse (und die des eigenen Kollektivs) sind, und sie als Wunsch formuliert an die Gegenpartei richten. Und umgekehrt.
Gefühle in der Politik
Zugegeben, das kann ein mühsamer Prozess sein. Aber er hilft dabei, Ängste abzubauen. Aus der Erfahrung Rosenbergs folgt außerdem, dass sich dank dieser Methode oft eine bessere Wirklichkeit aushandeln lässt. Eine Wirklichkeit, die unseren Träumen näher kommt. Dient denn die Politik nicht dazu, die Voraussetzungen zur Erfüllung der Träume ihrer Bürger zu schaffen? Jedenfalls nicht dazu, Konflikte mithilfe von Panzern eskalieren zu lassen! Vielleicht klingt das banal, aber wenn den verbissensten Rädelsführern mit Empathie begegnet wird, sind sie oft bereit, sie zu erwidern und an andere weiterzugeben. Schließlich sind wir alle Menschen.
Ich glaube daran, dass das Zeigen von Gefühlen in der Politik notwendig ist. Ihre Unterdrückung vereinfacht es nur den Populisten, uns zu manipulieren. Die von ihnen ideologisierte Welt erscheint dann wie ein andauernder Krieg um Leben und Tod, und die Regierungen der Nationalstaaten können (weiterhin) die einen Europäer gegen die anderen aufhetzen. In diesem Sinne ist es gut, dass "Smolensk" gedreht wurde. Ich bedaure nur, dass in der Debatte über den Film die Gelegenheit verpasst wurde, über Emotionen in der Politik zu sprechen.
Was ist nun in diesem Zusammenhang "Mein Europa"? Eine EUtopie, in der es Raum gibt für Emotionen, auch wenn sie traumatisch sind. Achtsamkeit beim Äußern von Emotionen und bei ihrer Umwandlung in Bedürfnisse - das ist einer der Grundpfeiler der EUtopie. Dies ermöglicht ein weitgehend gewaltfreies Miteinander der Bewohner der einzelnen Regionen des Kontinentes und eine gesamteuropäische sichere und effektive Globalpolitik.
Übersetzt aus dem Polnischen von Simone Falk
Stanisław Strasburger ist Schriftsteller und Kulturmanager. Seine Schwerpunkte sind kollektives Gedächtnis, Migration, Multikulturalität und EUtopie. In Buchform sind von ihm erschienen: "Besessenheit.Libanon" (2015 auf Polnisch, 2016 auf Deutsch) und "Der Geschichtenhändler" (2009 auf Polnisch, 2014 auf Arabisch und geplant für 2017 auf Deutsch). Er lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und Beirut.