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Der eigenen Vergangenheit ins Auge schauen

Zhang Danhong11. Juni 2015

Ich kenne kein Land auf der Welt, das die dunklen Seiten seiner Geschichte so schonungslos aufarbeitet. Das verdient Respekt. Bereits in der Schule ist der Nationalsozialismus hier ein Dauerthema.

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Holocaust-Mahnmal
Das Holocaust-Mahnmal in BerlinBild: picture-alliance/Geisler-Fotopress/S. Gabsch

Die Schikanen an der Schule wurden für Jakob Stern immer unerträglicher: Erst wurde er auf eine Judenbank in einer Ecke der Klasse verbannt. Dann musste er sich im neu eingeführten Fach Rassenkunde vor allen Kindern ausziehen, damit der Lehrer auf die jüdischen "Abnormalitäten" hinweisen konnte. Auf dem Nachhauseweg wurde er beschimpft und mit Steinen beworfen.

In der Pogromnacht im November 1938 wurde sein Vater von der Gestapo verhaftet und ins Straflager geschickt. Als er Wochen später wie ausgewechselt zurückkehrte, stand es für die Eltern fest, dass Jakob Deutschland verlassen musste, bevor es zu spät wurde. So begab sich der 15jährige Junge mit Hunderten jüdischer Kinder zusammen auf eine Reise voller Gefahren und Qualen, die ihn um den halben Globus nach Australien brachte.

Die Verbrechen der Urgoßväter bereits in der 8. Klasse

Zwar ist Jakob eine fiktive Figur aus dem historischen Roman "Die lange Reise des Jakob Stern" von Rainer Schröder. Doch so oder so ähnlich erging es den rund 10.000 jüdischen Kindern aus Deutschland und Polen, die in den Monaten bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges in einer einzigartigen Rettungsaktion vor dem Tode bewahrt wurden. Ihre Familien sahen die meisten nie wieder.

Mit dem Schicksal von Jakob Stern setzen sich viele deutsche Achtklässler im Deutschunterricht auseinander. Meine Tochter, die inzwischen 17 Jahre alt ist und gerade Abitur gemacht hat, erinnert sich noch sehr genau an die Lektüre. Betroffen und ergriffen waren sie und ihre Mitschüler, berichtet sie. In der 9. Klasse ging es an ihrem Gymnasium in Köln weiter mit dem Thema Nationalsozialismus in Form von Trümmerliteratur. Der Härtetest erwartet sie aber in der zwölften Klasse - dann wird das Gedicht "Todesfuge" von Paul Celan über den Holocaust analysiert: "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau, er trifft Dich mit bleierner Kugel er trifft Dich genau." Bedrückender kann ein Gedicht kaum sein.

Buchcover - Die lange Reise des Jakob Stern EINSCHRÄNKUNG
Pflichtlektüre für AchtklässlerBild: cbt

Ein immer wiederkehrendes Thema

Thematisiert wird das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte auch in Fächern wie Religion, Philosophie, Politik oder Pädagogik. Der Hauptschauplatz aber ist natürgemäß der Geschichtsunterricht. Zwar fallen durch die Verkürzung der Schulzeit ganze Epochen weg, aber "wenn es ein Thema gibt, was nicht ausgeklammert wird, dann ist das der Nationalsozialismus", sagt Rolf Sabel, Geschichtslehrer in Köln. So werden schon den Achtklässlern rudimentäre Kenntnisse über die Nazi-Verbrechen vermittelt. Die Zehntklässler werden dann im Rahmen eines Projekts von Abiturienten über alle Stationen des Nationalsozialismus von der Machtübernahme Hitlers bis zur Kapitulation Deutschlands am Ende des Zweiten Weltkrieges unterrichtet, berichtet meine Tochter. Dies sei eine unter den Schülern besonders beliebte Unterrichtsform.

Flash-Galerie 65 Jahre Befreiung Auschwitz
Befreiung des Konzentrationslagers AuschwitzBild: AP

In der 12. Klasse, also im Abiturjahr, geht es bei allen acht Hauptthemen seit 1800 noch mal in die Tiefe. Dabei nimmt "Die nationalsozialistische Diktatur" im Lehrbuch "Geschichte und Geschehen, Oberstufe Gymnasium" mit über 60 Seiten den größten Umfang ein. Mit ganzen zehn Seiten beschäftigen sich die Autoren mit dem Völkermord an den europäischen Juden. Das sei auch der Teil, der die Mitschüler emotional am stärkten berührt, sagt meine Tochter. Wenn die Jugendlichen Berichte über Einzelschicksale im Lehrbuch lesen, dann sei es mucksmäuschen still - im Unterrichtsalltag keine Selbstverständlichkeit.

Exkursionen an die Stätten des Grauens

Um den Unterricht anzureichern, werden Klassenfahrten zu den verschiedenen Konzentrationslagern organisiert. Für die Kölner Schüler ist der Besuch im EL-DE-Haus ein Muss. In der früheren Zentrale der Kölner Gestapo ist heute ein NS-Dokumentationszentrum beheimatet. Das Gefängnis im Keller sieht genau so aus wie vor 70 Jahren. An den Zellenwänden sind Inschriften von jungen Juden und Oppositionellen an ihre Geliebten und die Nachwelt noch deutlich zu lesen. Beim Blick in den Innenhof, der als Hinrichtungsstätte diente, läuft es einem kalt den Rücken runter. Hier erfahren die Schüler, dass von den rund 10.000 Juden in Köln nur noch 50 am Ende des Nationalsozialismus in der Stadt lebten.

"Viele verstehen nicht, wie solche Verbrechen möglich wurden, und sagen, sie hätten niemals mitgemacht", erzählt meine Tochter. Das kommt einem schnell über die Lippen, wenn man das Glück hat, im Frieden und Wohlstand aufzuwachsen. Ex-Kanzler Helmut Kohl bezeichnet das als "die Gnade der späten Geburt".

Keine Schuld, aber Verantwortung

Fühlen sich die heutigen Deutschen noch schuldig? Nein, sagt Geschichtslehrer Sabel: "Man kann Schuld nicht wirklich vererben. Gleichwohl ist es so, dass da ein Volk Schuld auf sich geladen hat. Da können die nachfolgenden Generationen nicht sagen: Wir haben damit nichts zu tun." Er mahnt dennoch ein ausgewogenes Verhältnis an: "Ich kann nicht die gesamte Antike in acht Wochen behandeln und über den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Schuld ein halbes Jahr Unterricht halten." Vor allem sollten die Lehrer mehr miteinander absprechen, damit die Schüler nicht gleichzeitig in meheren Fächern mit dem schweren Thema konfrontiert werden.

Zhang Danhong Kommentarbild App
DW-Redakteurin Zhang Danhong

Von meiner Tochter weiß ich, dass es ihr und ihren Schulkameraden nicht zu viel wurde. So hatten sie im letzten Schuljahr durchaus die Chance, das NS-Kapitel nicht zum Schwerpunkt zu machen. Es wurde demokratisch abgestimmt. "Alle haben bei diesem Thema die Hand gehoben", sagt sie.

Das Verbrechen der Urgroßväter erschreckt und fasziniert zugleich. Indem sich die Heranwachsenden mit der Nazi-Ideologie und dem Herrschaftssystem des NS-Staates befassen, verfestigt sich ihr Verständnis für die Demokratie und auch das Verständnis für Ressentiments, die manche Nachbarländer immer noch gegenüber Deutschland hegen. Und je mehr deutsche Kinder das Schicksal von Jakob Stern verinnerlicht haben, desto sicherer kann man sein, dass sich so etwas Schreckliches nicht mehr wiederholen wird.

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.