Mein Berlinale-Tagebuch: der fünfte Tag
15. Februar 2012
Was Cannes den Franzosen ist und Venedig den Italienern, dass ist die Berlinale für das deutsche Kino. Doch Halt, da war doch mal was... Ich erinnere mich noch sehr genau an jene Zeit in den 90er Jahren, als heimische Filme hier gnadenlos ausgebuht wurden. So arg, dass sich kaum noch ein deutscher Regisseur zur Berlinale traute. Das beruhte allerdings auch auf Gegenseitigkeit. Dieter Kosslicks Vorgänger Moritz de Hadeln lud nur sehr selten und ungern deutsche Regisseure zum Wettbewerb ein, und so war die Berlinale lange Zeit ein Schauplatz des internationalen Kino, nicht aber einer der Deutschen.
„Barbara“ derzeit Favorit
Das änderte sich erst mit Kosslick und seinem Engagement für das heimische Kino. Übrigens wird ihm das heute noch hoch angerechnet, auch von denjenigen, die ihn inzwischen etwas kritischer sehen. Kosslick sorgte dafür, dass immer mindestens zwei deutsche Filme im Rennen um die Bären dabei waren, oft sogar mehr. Auch dieses Jahr haben es wieder drei geschafft, zwei davon haben wir bisher gesehen, einer steht noch aus. "Barbara" von Christian Petzold hat hier sehr gut abgeschnitten, in den Kritikerlisten der Tageszeitungen, auch den internationalen, ist "Barbara" ganz oben, also Bären-Favorit! Doch "Barbara" liegt jetzt schon wieder ein paar Tage zurück, heute, am Dienstag, folgte ihm sein Regiekollege Hans-Christian Schmid. "Was bleibt" heißt dessen neuestes Werk.
Schmid führt uns in eine schneeweiße, gutbürgerliche 70er Jahre-Villa in Westdeutschland. Eine Familie kommt zu einem lang ersehnten Wochenende zusammen. Die zwei Söhne, einer reist aus Berlin an, ein Schriftsteller, der andere hat sich im Elternhaus eine nicht gut gehende Zahnarztpraxis eingerichtet, kommen zunächst gut miteinander aus. Ein Enkelkind ist auch dabei, die Freundin des einen Sohnes ist mitgereist. Der Vater hat gerade seinen Job als Verleger an den Nagel gehängt und will jetzt ein Buch schreiben. Die Mutter, manisch-depressiv, versucht mal wieder ohne Medikamente auszukommen, ihr Leben neu einzustellen. "Was bleibt" ist eine klassische Familienkonfliktgeschichte, alte Grabenkämpfe werden ausgefochten, lange zurückliegende Streitigkeiten gepflegt. Das ist elegant inszeniert, psychologisch glaubwürdig erzählt, mit guten Charakteren - und doch irgendetwas fehlt.
Zu zahme Familienkonflikte
Was kann, was muss ein derartig realistisches Stück Kino heute haben, wenn es "ganz normale" Menschen zeigt, die man aus der eigenen Umgebung zu kennen glaubt? Wie hält man den Zuschauer zwei Stunden gefangen auf der großen Leinwand? Ist es möglicherweise etwas überspitztes, übertriebenes, etwas wahnsinniges, was diesem Film fehlt? Mehr als nur der Ehemann, der seine Freundin verschweigt und der Sohn, der gar nicht mehr mit der vermissten Schwiegertochter zusammen ist? Mehr auch als nur tausendmal inszenierte klassische familiäre Probleme?
Auf der Leinwand sollten sich zumindest auch ein paar visuelle Abgründe auftun, irgendetwas, das einen irritiert, das aus dem sterilen Villenhaus hinausführt in eine andere Welt. Hans-Christian Schmid ist ein großartiger Regisseur, und mit Schauspielern kann er auch umgehen. All das zeigt auch sein neuer Film. Schmid hat vor ein paar Jahren einmal den verstörenden Film „Requiem“ über eine Teufelsaustreibung in der Bundesrepublik der 70er Jahre gedreht. Genau dieser Wahnsinn fehlt seinem neuen Film.
Mein nächster Gang führt mich dann zu einem noch weitaus bekannteren deutschen Regisseur. Niemand geringeres als Oscar-Preisträger Volker Schlöndorff stellte hier bei der Berlinale seinen neuen Film vor, etwas abseits des großen Wettbewerbs in einer Nebenreihe. Auch das ist die Berlinale: Bekannte Größen wie Schlöndorff oder auch Doris Dörrie laufen hier in sogenannten Nebenprogrammen, ein Luxus, den sich die Berlinale leisten kann. Knapp 90 Filme gelten hier als heimische Produktion unter den 400 Premieren. Die Filmfestspiele, sie sind auch ein Schaufenster des deutschen Kinos.
Eine furchtbare Geschichte
Schlöndorffs Film "Das Meer am Morgen" raubt einem den Atem, nicht weil der Film so gut wäre, der Regisseur hat in seiner langen Karriere viele bessere Filme gemacht. Nein, er lässt mich verstummen, weil er mal wieder eine Geschichte aus dem 2. Weltkrieg erzählt, die einem das Blut stocken lässt. Zum ersten Mal gehört habe er von dieser grausamen Geschichte, als er mit 17 Jahren in der Bretagne Austauschschüler war, erzählt der Regisseur. Nur ein paar Kilometer entfernt hatte sich damals, 1941, ein schreckliches Drama abgespielt. Ein deutscher Offizier war von drei kommunistischen Widerstandskämpfern erschossen worden. Hitler wollte Blut sehen, 150 Franzosen sollten sterben, 50 wurden schließlich exekutiert. Zu traurigen Berühmtheit gelangte die Episode, weil Ernst Jünger sie literarisch verarbeitete, auch Heinrich Böll, damals blutjunger Soldat in der Bretagne, war in der Nähe stationiert, auch er hat das später verarbeitet.
Und weil der damals 17jähriger Guy Moquet, der zu den Verurteilten gehörte, noch einen herzzerreißenden Abschiedsbrief schrieb, wird heute noch in Frankreich am 22. Oktober in allen Schulen des Landes dieser Text verlesen. Eine "Sopie Scholl-Figur" sei Moquet heute für die Franzosen, sagt Schlöndorff. Auch das kann deutsches Kino sein: die eigene Geschichte erlebbar machen, Erinnerungen wecken. Mit dem Film habe er auch zeigen wollen, was vor langer Zeit in Europa möglich war, so der Regisseur. Wenn jemand heute Zweifel an Europa habe, dann möge er sich den Film anschauen. Recht hat Schlöndorff damit.
Autor: Jochen Kürten
Redaktion: Birgit Görtz