Mein Berlinale-Tagebuch: 1. Tag
10. Februar 2012Täglich grüßt das Murmeltier. Beziehungsweise die Berlinale. Jedes Jahr die gleiche Prozedur. Das mag für den ein oder anderen unfassbar fremd sein, so ein Filmfestival. Eine Veranstaltung, bei der in vielen verschiedenen Kinos viele neue Filme laufen. Von morgens bis spät in die Nacht. An zehn aufeinanderfolgenden Tagen. Ob ich das denn alles verarbeiten könne, werde ich oft gefragt. Ich kann. Allerdings bleibt nicht immer alles hängen. Darin unterscheidet sich die Berlinale von einem "normalen" Kinobesuch.
Eine andere Epoche…
Nach dreißig Jahren besuche ich das Murmeltier noch immer sehr gerne. Zwei Jahrgänge habe ich verpasst. An den ersten Berlinale-Besuch erinnere ich mich noch gut. Einen Film von der deutschen Größe Herbert Achternbusch gab es damals. Und von Rainer Werner Fassbinder auch. Stöbert man im Bilder-Archiv des Jahres 1982, so stößt man auf ein Foto, das Fassbinder neben James Stewart zeigt. Unfassbar eigentlich, beide sind schon lange tot. 1982 erscheint mir heute weit entfernt. Das war ein anderes Jahrhundert.
Bei meinen ersten Berlinale-Besuchen stand die Mauer noch. Die Kinos befanden sich im Westen.Ich musste meinen Pass zeigen, in grimmige Gesichter beim Grenzübertritt schauen. Der Zoopalast war das Zentrum, der Rote Teppich auch damals schon Anziehungspunkt für die Boulevardjournalisten. Später zog die Berlinale an den Potsdamer Platz - eine neue Welt, zunächst fremd, inzwischen akzeptiert.
Zu große Erwartungshaltung
Eins hat sich in den 30 Jahren nicht geändert: die Spannung vor dem Eröffnungsfilm. Am Nachmittag vor der abendlichen Galavorführung wird er schon für die Presse gezeigt. Meistens enttäuscht er die Journalisten. Das liegt wohl in der Natur der Sache. Kaum ein Regisseur der Welt könnte ihren hohen Erwartungen gerecht werden.
So ist es auch diesmal. Kaum eine Hand regt sich am Ende des Films "Les Adieux à la reine" zum Applaus. Begeisterung sieht anders aus. Regisseur Benoît Jacquots hat einen stillen, verhaltenen Film über die französische Revolution gedreht. Ein Kostümfilm, fast kammerspielartig in Szene gesetzt. Nur auf die Königin, ihre persönliche Vorleserin, ein paar Gefolgsleute aus dem hohen Adel richtet sich Jacquots Kamera.
Parallelen zu heute…
Und wer will, kann in „Les Adieux à la reine" auch Parallelen zur heutigen Zeit entdecken. Revolutionen und Umbrüche gibt es ja überall. Festivalchef Dieter Kosslick hat das im Vorfeld der Berlinale angedeutet: Der Film zeige das Schicksal einer Königin, die gestürzt wird - genau ein Jahr nach dem Abgang des ägyptischen Herrschers Husni Mubarak. Doch in dem Film geht es nicht um das Aufbegehren des Volks. Jacquot blendet ganz bewusst den historischen Hintergrund aus, beschränkt sich auf die Perspektive der Vorleserin, eines jungen Mädchens, das vorsichtig und voller Respekt um die Königin kreist und versucht sich ein Bild zu machen von den bewegten Tagen nach dem 14. Juli 1789.
Diane Kruger als bedrängte Königin Marie Antoinette bleibt blass, nicht nur weil sie so stark geschminkt ist. Am Abend auf dem Roten Teppich sieht sie dann um ein vielfaches strahlender aus. Doch das ist eine andere Geschichte, eine andere Welt. Und eigentlich ist der Festivaldonnerstag ja auch noch gar kein richtiger Festivaltag. Ich bin deshalb gespannt auf den Freitag, wenn das Murmeltier wieder wartet am Berlinale-Palast.
Autor: Jochen Kürten
Redaktion: Sabine Oelze