Mehr oder weniger Sicherheit?
19. August 2010
Viele Iraker betrachten den Abzug der amerikanischen Kampftruppen mit gemischten Gefühlen. Zum einen freuen sie sich über den Abzug der Besatzer. Der von den USA angeführte Irak-Krieg 2003 und die folgenden jahrelangen Kämpfe und Anschläge haben nach unterschiedlichen Schätzungen mehrere zehntausend Iraker das Leben gekostet. Es gibt kaum eine Familie, die keine Opfer zu beklagen hätte. Zum anderen herrscht große Sorge, dass die Sicherheitslage sich jetzt noch weiter verschlechtern könnte, dass Terroranschläge zunehmen oder neue Konflikte zwischen verschiedenen Volksgruppen und Milizen ausbrechen. Eine Straßenumfrage der Deutschen Welle in Bagdad lässt vor allem Angst und Verzweiflung erkennen: "Die Sicherheitslage ist sehr schlecht", sagt eine Frau in Bagdad. "Es gibt viele Sprengstoffanschläge und wir Frauen können uns ohne Begleitung des Vaters, Bruders oder Ehemanns nicht aus dem Haus wagen." Ein Mann aus der irakischen Hauptstadt erklärt, man habe das Land zerstückelt. Es gebe weder eine Regierung noch herrsche Sicherheit.
In jüngster Zeit haben Anschläge von Terror-Gruppen wie Al-Kaida wieder stark zugenommen. Betroffen sind insbesondere Polizisten, Soldaten sowie Rekruten aus beiden Berufen. Verkehrspolizisten werden aus vorbeifahrenden Autos heraus erschossen, Bewerber für Jobs bei Armee und Polizei von Selbstmordattentätern in die Luft gesprengt. Erst am Dienstag (17.8.2010) starben bei einem solchen Anschlag mitten in Bagdad 59 Rekruten. Die Botschaft der Terroristen ist unmissverständlich: Wer im Irak seine Arbeitskraft in den Dienst von Stabilisierung und staatlicher Sicherheit stellt, muss schon als Anwärter um sein Leben fürchten.
Fragile Sicherheit
Das Wiedererstarken der Al-Kaida ist keineswegs das einzige Problem. Die Sicherheitslage im Irak gilt auch deshalb wieder als fragil, weil die führenden Politiker es seit den Parlamentswahlen vor fast einem halben Jahr nicht geschafft haben eine neue Regierung zu bilden. Alle Bemühungen um eine Koalition der nationalen Einheit aus den Parteien des Wahlsiegers Ijad Al-Alawi, des amtierenden Regierungschefs Nuri Al-Maliki sowie des Kurden-Bündnisses im Nordirak waren bisher vergeblich: Vor wenigen Tagen wurden die Gespräche vorerst auf Eis gelegt. Extremisten und Terroristen profitieren von diesem politischen Vakuum an der Regierungsspitze, die Nachbarländer wie der Iran, die teilweise engste Beziehungen zu einzelnen Parteien oder Milizen pflegen.
Schon seit Monaten sieht sich der US-Oberkommandierende General Raymond Odierno in fast jedem Interview mit Befürchtungen vor einer neuen Gewaltwelle konfrontiert. Er versucht zu beschwichtigen: "Wir sind immer noch hier! Wir verlassen das Land nicht komplett und wir sind dem Irak immer noch sehr verpflichtet", betonte er Mitte August gegenüber seinem Heimatsender CNN.
Aber auch Odierno ist weit entfernt davon, die Lage schön zu reden. So erklärte er in einem anderen Interview, er sehe in dem nach wie vor völlig ungelösten Konflikt zwischen Arabern und Kurden um die Öl-Metropole Kirkuk ein gefährliches Sicherheitsrisiko.
Angst vor der Zukunft
Sein irakischer Kollege Babaker Sebari ist deutlich pessimistischer. Der Militärchef aus Bagdad hat in den vergangenen Wochen vergeblich darauf hingewiesen, dass seine Armee noch längst nicht hinreichend ausgebildet sei. In zahlreichen Statements plädierte er dafür, die US-Tuppen bis 2020 im Land zu lassen. Aber US-Präsident Barack Obama will die jetzt noch verbleibenden 56.000 US-Soldaten bis Ende 2011 abziehen. In der restlichen Zeit sollen sie vor allem dabei helfen, die insgesamt 750.000 Mann starken irakischen Sicherheitskräfte fit zumachen.
Es gibt aber auch Experten, die davor warnen, den derzeitigen Einfluss der US-Amerikaner auf die Sicherheitslage zu überschätzen. Der politische Analyst und irakische Autor Amir Al-Hilou sagte im Interview mit der Deutschen Welle, die US-Truppen hätten sich seit Monaten aus den Städten zurück gezogen und spielten bei den militärischen Aktionen der letzten Monate bereits keine Rolle mehr. "Der Rückzug von ihren militärischen Stellungen wird sich zwar vielleicht auf die nationale Sicherheitslage insgesamt auswirken - aber nicht auf die täglichen Aktionen in den Städten und auf den Straßen", so Al-Hilou.
Im besten Falle wäre nun vorstellbar, dass der US-Abzug einen heilsamen Druck auf die irakischen Politiker ausübt und sie dazu zwingt, ihre Verantwortung ernster zu nehmen. Aber selbst Optimisten wagen derzeit kaum auf eine Verbesserung der Sicherheitslage in absehbarer Zeit zu hoffen. Zwei pessimistische Szenarien erscheinen realistischer: Die Sicherheitslage bleibt so gefährlich wie sie ist. Oder sie verschlechtert sich weiter.
Autor: Rainer Sollich
Redaktion: Diana Hodali