Mega-Städte stressen
24. Oktober 2012Die Aussicht auf bessere Arbeit und höheren Verdienst, auf urbane Kultur und Lifestyle zieht immer mehr Menschen in die Stadt. Lebte vor 60 Jahren noch weniger als ein Drittel der Weltbevölkerung in Städten, ist es heute mehr als die Hälfte. Bis 2050, schätzen Experten, werden es sogar 70 Prozent sein.
Mit dem Anstieg der Stadtbewohner steigt weltweit auch die Zahl psychischer Erkrankungen, warnt Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim: "Allein Depressionen kosten die Menschen in Europa pro Jahr rund 120 Milliarden Euro. Und die Kosten aller psychischen Erkrankungen zusammengenommen - inklusive Demenz, Angststörungen und Psychosen - übersteigen mittlerweile den Etat des Europäischen Stabilitätsmechanismus. Häufigkeit und Schwere dieser Erkrankungen werden immer noch häufig unterschätzt."
Stadtleben macht häufig einsam und krank
2003 veröffentlichten britische Psychiater eine Studie über den psychischen Zustand der Bewohner des Londoner Stadtteils Camberwell, einer Gegend, die seit Mitte der 1960er Jahre einen starken Auftrieb erlebt hat. Zwischen 1965 und 1997 hatte sich die Zahl der Schizophrenie-Patienten nahezu verdoppelt - ohne dass die Bevölkerung insgesamt in gleichem Maße gestiegen wäre. In Deutschland verdoppelte sich zwischen 2000 und 2010 die Zahl der Krankheitstage aufgrund psychischer Beschwerden, in Nordamerika hängen jüngsten Schätzungen zufolge rund 40 Prozent aller Krankmeldungen von Arbeitnehmern mit Depressionen zusammen.
"In den Städten kann es passieren, dass man seine Nachbarn nicht kennt, dass man seine soziale Unterstützung, die man vielleicht in der kleineren Stadt oder im Dorf hatte, nicht aufbaut, dass man vereinsamt und sich sozial ausgeschlossen fühlt und einem das Sicherheitsnetzwerk fehlt." Die Nachteile des Stadtlebens seien bekannt, so Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin.
Belastbare Studien zum Einfluss der Stadt auf das menschliche Gehirn gibt es bisher allerdings kaum. Aus Tiermodellen weiß man jedoch, dass soziale Isolation das Botenstoffsystem des Gehirns verändert: "Grundsätzlich geht man davon aus, dass das Hormon Serotonin ein entscheidender Botenstoff ist, um bedrohliche Situationen abzupuffern. Isoliert man Tiere früh sozial, sinkt das Serotonin massiv. Das heißt, dass Regionen, die auf bedrohliche Reize reagieren, enthemmt werden und verstärkt reagieren. So kann soziale Ausschließung oder mangelnde soziale Unterstützung dazu führen, dass man gegenüber Stresssituationen besonders empfindlich wird und viele Situationen, die gar nicht so bedrohlich sein müssen, überstark wahrnimmt. Das kann schließlich dazu beitragen, dass man leichter Angsterkrankungen oder auch Depressionen entwickelt."
Stadtleben verändert das Gehirn
Eine der ersten Studien mit menschlichen Testpersonen scheint diese Vermutungen zu bestätigen: In der Röhre des Magnetresonanztomographen untersuchten Andreas Meyer-Lindenberg und sein Team Gehirne von Menschen, die in Städten groß wurden und Menschen, die erst als Erwachsene in die Stadt zogen. Während die Probanden kleine Rechenaufgaben lösen mussten, setzten die Wissenschaftler sie permanent mit negativem sozialen Feedback unter Druck. Sie beschwerten sich zum Beispiel darüber, dass die Testpersonen zu langsam oder falsch rechneten. Oder viel schlechter agierten als ihre Vorgänger.
"Wir haben gezielt auf die Gehirnareale geschaut, die aktiv sind, wenn man gestresst ist und die auch unterschiedlich ausgeprägt sind, je nachdem, wie stark die urbane Erfahrung der Menschen war." Besonders die Amygdala habe auf sozialen Stress angesprochen, und zwar umso mehr, je stärker die Testpersonen aus einem urbanen Umfeld kamen. "Diese Hirnregion ist immer dann aktiv, wenn man etwas als bedrohlich wahrnimmt. Sie kann aggressive Gegenreaktionen auslösen und spielt eine Rolle bei der Entstehung von Angststörungen", erklärt Meyer-Lindenberg. Wer in der Stadt aufgewachsen ist, zeigte unter Stress zudem eine ähnliche Aktivität in bestimmten Hirnregionen wie Menschen, die aufgrund einer genetischen Disposition anfällig für Schizophrenie sind.
Hirnforschung liefert Daten für gesündere Städteplanung
Überall auf der Welt wachsen Städte gerade enorm und verändern sich. Aber, so Meyer-Lindenberg, niemand habe aussagekräftige Daten darüber, wie eine ideale Stadt aussehen soll, wenn man auch die psychische Gesundheit ihrer Bewohner mit einbezieht. Meyer-Lindenberg hat deshalb zusammen mit Geografen der Universität Heidelberg und Physikern des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) ein mobiles Gerät entwickelt, mit dem Testpersonen an verschiedenen Orten in einer Stadt lokalisiert werden können. Über dieses können sie - in einem Park oder an einer Ampelkreuzung - bestimmten geistigen Tests unterzogen werden.
Zusammen mit anschließenden Hirn-Untersuchungen der Probanden hoffen die Forscher konkretere Erkenntnisse darüber zu erhalten, wie sich verschiedene Aspekte eines urbanen Alltags im Gehirn abbilden: Verursachen enge Wohnungen Stress oder nur, wenn auch die Straßen zu schmal sind? Wirkt es beruhigend, wenn jeder auf einen Baum sehen kann? Oder reicht es, wenn ein Park in der Nähe ist? Hat ein Spaziergang durch eine Grünanlage überhaupt einen messbaren Effekt im Gehirn?
Architekten müssen umdenken
Für Architekten und Stadtplaner, so Richard Burdett, Professor für Stadtforschung an der London School of Economics, können die Erkenntnisse der Hirnforscher in Zukunft wertvolle Entscheidungshilfen werden. "Städteplaner müssen künftig zweifellos die Balance im Blick haben zwischen der Notwendigkeit, viele Menschen auf wenig Raum zu organisieren und der Notwendigkeit, offene Räume zu haben. Die Leute", so Burdett, "müssen Zugang zu Kinos haben, sich mit Freunden treffen oder am Fluss bummeln können. Solche Aspekte werden heute häufig einfach nicht bedacht, wenn neue Städte geplant werden, in China etwa oder in Indonesien. Architekten achten auf Proportionen und Gestalt und Stadtplaner auf die Effizienz des öffentlichen Nahverkehrs. Aber wir haben oft keine Ahnung davon, was das mit den Menschen macht."