"Medizinische Hilfe nur unter Lebensgefahr"
11. August 2016DW: Herr Gertler, "Ärzte ohne Grenzen" verkündete diese Woche den Beschuss eines Krankenhauses in der Stadt Millis im Nordwesten Syriens. Was bedeutet der Angriff für die Arbeit Ihrer Organisation?
Maximilian Gertler: Dieser Angriff war ja nur einer von Dutzenden auf Krankenhäuser, die wir in Syrien unterstützen. Bei dem jüngsten Angriff ist das Krankenhaus nahezu vollständig zerstört worden. Es ist nun unmöglich, dort Menschen zu versorgen. Nach derzeitigem Stand gab es 13 Tote - vier davon waren Angestellte des Krankenhauses. Unter den übrigen Toten sind fünf Kinder und zwei Frauen. Solche Angriffe verstoßen gegen jegliches Völkerrecht. Für "Ärzte ohne Grenzen" bedeutet das, dass die Einsätze immer schwieriger werden. Wenn die Arbeit an Orten, an denen Verletzte und Erkrankte behandelt werden, zu einer lebensgefährlichen Gefahr wird, dann wird da kaum mehr jemand arbeiten. Und dass heißt, es wird immer schwieriger, für die Menschlichkeit einzustehen.
Man liest immer wieder, zivile Einrichtungen stünden verstärkt unter Beschuss. Können Sie das bestätigen?
Wir sehen, dass zivile Einrichtungen ununterbrochen angegriffen werden. Es werden Schulen, Märkte, Krankenhäuser bombardiert. Das sind keine Einzelfälle. Wir unterstützen rund 150 Krankenhäuser in Syrien. So beraten wir etwa das Personal vor Ort am Telefon oder per Funk. Unsere Partner berichten uns immer wieder von solchen Angriffen.
Was bedeutet das für die Arbeit von "Ärzte ohne Grenzen"?
Es ist für uns in den letzten Jahren immer schwieriger geworden, internationales Personal nach Syrien zu entsenden. Zur Zeit ist es so gut wie gar nicht mehr möglich, denn es ist schlicht zu gefährlich. Medizinische und humanitäre Helfer müssen den Anspruch haben, in ihren Einrichtungen sicher arbeiten zu können. Das ist aber nicht gewährleistet.
Können "Ärzte ohne Grenzen" trotzdem noch Hilfe leisten?
Wir helfen weiterhin materiell und finanziell. Zudem schicken wir Medikamente, Verbandsmaterial, Antibiotika, Narkosemittel oder zumindest Schmerzmittel. Zudem leisten wir Beratungshilfe. Und so banal es klingt: Ich hoffe, dass wir durch diese Unterstützung, diese gewissermaßen ferngesteuerte Hilfe auch signalisieren können, wir sind noch bei euch. Wir hoffen, die Mediziner motivieren zu können, ihre Arbeit weiter durchzuführen. Obwohl man natürlich derzeit niemandem raten kann, unter diesen Bedingungen zu arbeiten.
Es wird auch von Giftgasangriffen auf Aleppo berichtet. Können Sie das bestätigen?
"Ärzte ohne Grenzen" ist über zwei mögliche Chlorgasangriffe informiert worden, die sich am 10. August im Osten Aleppos ereignet haben sollen. Wir sind derzeit im Kontakt mit zwei von uns unterstützten Krankenhäusern. Sie berichten uns, sie hätten rund 80 Patienten bekommen. Fast die Hälfte davon sind Kinder unter 10. Viele Patienten haben akute Atemwegsprobleme. Andere leiden an Bindehautentzündung. Unsere Kollegen, die mit den Medizinern vor Ort in Kontakt sind, versuchen derzeit mehr Informationen über die Ursache der Symptome zu bekommen. Wir haben derzeit keine Möglichkeiten, das selbst zu überprüfen.
Was wissen Sie über die Hilfskorridore, von denen die Regierung Assad und ihr Verbündeter Moskau sprechen?
Was die zeitlich begrenzten Korridore angeht, so können wir nach Gesprächen mit unseren Partnern vor Ort nicht bestätigen, dass das funktioniert. Aus unserer Sicht muss es natürlich solche Hilfskorridore geben, durch die medizinische und Versorgungshilfe, aber auch Mediziner und Helfer in die Stadt kommen können. Außerdem muss es Fluchtwege für die Bevölkerung geben - und zwar sichere Fluchtwege, die sie zudem dahin führen, wo sie hin wollen.Es darf nicht ausschließlich Fluchtwege geben, durch die sie in die Arme derer gelangen, die sie vorher bombardiert haben. Das ist im Moment aber in keiner Weise gegeben.
Welche Erwartungen hat "Ärzte ohne Grenzen" an die Politik?
Wir fordern, dass die Helfer Zugang zu den Menschen bekommen. Dass man in einiger Sicherheit, die diese Situation überhaupt zulässt, die Personen, die teils schwerste Verletzungen durch Bombardements und Schusswaffen haben, versorgen kann. Es geht darum Gliedmaßen zu retten, Leben zu retten. Es geht darum, Schmerzen zu lindern. Und wir fordern sichere Flucht- und Versorgungswege für die eingeschlossene Bevölkerung. Es kann nicht sein, dass Ärzte, die dort ja aus Solidarität und sicher nicht für großartige Gehälter arbeiten, bombardiert werden und ununterbrochen in Lebensgefahr sind. Also: Zugang, sichere Hilfe, keine Bombardierung von Krankenhäusern.
Der Notarzt und Internist Dr. Maximilian Gertler ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen".
Das Interview führte Kersten Knipp.