Massenproteste nach Anschlag in Tunis
6. Februar 2013In der Hauptstadt Tunis versammelten sich Tausende Menschen vor dem Innenministerium. Viele forderten den Sturz der Regierung, die nach dem Volksaufstand gegen Machthaber Zine al-Abidine Ben Ali vor zwei Jahren gewählt worden war. Bei Zusammenstößen in Tunis wurde ein Polizist durch Steinwürfe tödlich verletzt.
In Sidi Bouzid protestierten Augenzeugen zufolge mehr als 4000 Menschen. Sie setzten Reifen in Brand und bewarfen Polizisten mit Steinen. Diese schossen in die Luft und setzten Tränengas ein. In dem Ort hatte sich im Januar 2011 der arbeitslose Uni-Absolvent Mohamed Bouazizi angezündet und damit die Protestwelle in Tunesien ausgelöst, die den Arabischen Frühling einleitete.
In der Stadt Mezzouna nahe Sidi Bouzid wurde das Büro der Ennahda-Partei in Brand gesetzt, auch in Gafsa und Kef verwüsteten Demonstranten Parteibüros. In der Stadt Kasserine forderten rund 500 Menschen in Sprechchören "Rache". Auch in der Küstenstadt Sousse gingen Regierungsgegner auf die Straßen.
Scharfer Kritiker der Regierung
Der bekannte Regierungskritiker Chokri Belaid war am Mittwochmorgen vor seinem Haus erschossen worden. Die Schüsse trafen Belaid, den Vorsitzenden der Vereinten Demokratisch-Natiionalistischen Partei, in Kopf und Brust. Belaid war auch führendes Mitglied der Volksfront, einer Allianz linksgerichteter Parteien. Der Anwalt und Menschenrechtsaktivist hatte sich immer wieder kritisch über die gemäßigt-islamische Regierungspartei Ennahda geäußert sowie vor der Gewalt islamischer Extremisten gewarnt. Der Bruder des Ermordeten machte die Ennahda für den Mord verantwortlich, die umgehend jegliche Verantwortung dafür bestritt. Der Ennahda-Vorsitzende Rachid Ghannouchi sprach der Familie Belaids sein Beileid aus und rief zu einem Tag der Trauer auf.
Nach den heftigen Protesten kündigte der tunesische Ministerpräsident Hamadi Jebali die Bildung einer Technokraten-Regierung an. "Ich habe beschlossen, eine Regierung der nationalen Kompetenz ohne politische Zugehörigkeit zu bilden", sagte Jebali am Mittwochabend in einer Fernsehansprache. Jebali will auch künftig Regierungschef bleiben. Konkrete Namen für die Besetzung bestimmter Ressorts nannte er nicht.
Hollande ist sehr besorgt
Frankreichs Präsident Francois Hollande zeigte sich alarmiert über die erneute Gewalteskalation der früheren französischen Kolonie. Er sagte: "Der Mörder hat Tunesien eine seiner mutigsten und freiesten Stimmen genommen." Der tunesische Präsident Moncef Marzouki rief die Bürger zur Besonnenheit auf und brach einen Besuch in Frankreich ab. Er sagte auch die geplante Teilnahme am Gipfel islamischer Staaten in Kairo ab und eilte nach Tunis zurück. Im Januar hatte er noch davor gewarnt, dass die jüngsten Spannungen in Tunesien in einen Bürgerkrieg münden könnten. Marzouki gehört der säkularen Partei "Kongress für die Republik" an, die an der Regierung beteiligt ist.
Am Sonntag drohte die Partei mit einem Koalitionsbruch, sollte Ennahda nicht zwei islamistische Minister entlassen. Nach der Wahl der von Islamisten dominierten Regierung im Oktober 2011 ist ein erbitterter Streit mit säkularen Kräften über die weitere Ausrichtung der Politik entbrannt. Viele fürchten den wachsenden Einfluss extremistischer Kräfte.
kle/sc (rtr, afp, apd)