"Russland ist ein mafiöser Staat"
20. März 2019Zhanna Nemzowa: Frau Gessen, "Die Zukunft ist Geschichte: Wie Russland die Freiheit gewann und verlor" ist nicht Ihr erstes Buch über Putins Russland. 2012 erschien das Buch "Der Mann ohne Gesicht - Wladimir Putin: eine Enthüllung". Warum sollte man Ihrer Meinung nach Putins Rolle und die Umstände seiner Machtübernahme überdenken?
Masha Gessen: Mir ist wichtig deutlich zu machen, dass ich 1991 nicht als einen Wendepunkt in der Geschichte Russlands betrachte. Ich glaube nicht, dass wir es in Russland mit einer sich hinziehenden Übergangsphase zu tun haben, und ich glaube auch nicht, dass in Russland ein hybrides Regime besteht. Ich glaube, dass es 1991 im bestehenden System Veränderungen gab, aber es zu keinem Bruch mit dem System kam. Als sich alles "beruhigte", hatten wir eine modifizierte Sowjetunion, in dem Sinne, dass das Regime nicht mehr totalitär war, aber die Gesellschaft sich in einen totalitären Zustand zurückversetzte.
In Ihrem Buch erwähnen Sie die Wahlen von 1996, die im russischen Diskurs als Wendepunkt gelten. Damals wurde Boris Jelzin erneut zum Präsidenten gewählt. Würden Sie dem zustimmen, dass gerade ab 1996 die Freiheiten der Bürger eingeschränkt wurden?
Anders als manche Forscher, die Putins Russland untersuchen und behaupten, dass Russland sich für Putin entschieden habe, glaube ich das überhaupt nicht. Putin ist ein Produkt Russlands. Der heutige Zustand der russischen Gesellschaft ist das Ergebnis der fast zwanzigjährigen Herrschaft Putins. Die Tatsache, wie 1996 die Wahlen gehandhabt wurden, und dass 1999/2000 Putin so aufgebaut werden konnte, ist Folge dessen, dass es 1991 keine wirkliche Veränderung gab. Die staatlichen Institutionen wurden einfach von einer anderen Gruppe übernommen.
Kann man Jelzin persönlich dafür verantwortlich machen?
Er wollte gar keinen Bruch mit dem System. Die einzige Institution, die er brechen wollte, war der KGB. Das ist aber nicht gelungen. Die Hauptidee war in Wirklichkeit, die Planwirtschaft durch Marktwirtschaft zu ersetzen. Aber die wichtigsten staatlichen und kulturellen Strukturen wurden nicht aufgebrochen. Das konnte man daran erkennen, wie die Leute, die an die Macht gekommen waren, über sich selbst gedacht hatten. Sie dachten nicht daran, die imperiale Politik Russlands grundlegend zu überdenken. Russland blieb ein Imperium, einfach nur stark verkleinert. Wenn man all das nicht überdenkt, wenn man keine neue, postimperiale Identität schafft, dann ist man einfach nur gekränkt darüber, dass das Land kleiner geworden ist.
Alle an der Spitze der ersten postsowjetischen Regierungen waren gut ausgebildete Marxisten und Leninisten. Sie glaubten fest, dass eine Veränderung der materiellen Existenzbedingungen alles verändern würde: wenn sie einen Markt schaffen, dass sie dann auch ein neues Land schaffen. Aber manche dachten auch daran, dass eine nationale Idee entwickelt werden muss.
Warum ist das damals nicht gelungen?
Ich glaube, es fehlte an Vorstellungskraft. Das ist eine der Folgen von siebzig Jahren Totalitarismus. Die Gesellschaft ist ungeheuerlich entstellt. Ein solches Regime nimmt den Menschen die Fähigkeit, sich eine eigene Meinung zu bilden. Es beraubt sie in noch stärkerem Maße der Vorstellungskraft, Kreativität und Fähigkeit, sich die Zukunft auszumalen.
Der Kreml-Kritiker und Oppositionspolitiker Alexej Nawalny bietet die Idee einer "schönen Zukunft Russlands" an. Ist das richtig?
Ich denke, das ist ein absolut richtiger Ausgangspunkt. In dieser Hinsicht ist er ein sehr talentierter Politiker. Das Problem ist, dass es in dem Land, in dem er das sagt, keinen öffentlichen Raum gibt, in dem man das sagen kann. In den späten achtziger und frühen neunziger Jahren gab es einen solchen öffentlichen Raum.
Ist das Image der Sowjetunion oder das des heutigen Russlands schlechter?
Das lässt sich heute schwer voneinander unterscheiden. Die Rhetorik des Kalten Krieges ist zurück. Alles, was in den USA über die Sowjetunion gesagt wurde, sagt man jetzt über Russland. Aber ich halte es für falsch, von einem Angriff des russischen Staates auf die amerikanische Demokratie zu sprechen. Heute haben wir es nicht mit einer Konfrontation staatlicher Systeme zu tun. Russland verfolgt überhaupt keine staatlichen Interessen. Russland ist ein mafiöser Staat, dessen Anführer ausschließlich ihre eigenen Clan-Interessen verfolgen. Das ist keine geopolitische Entwicklung, sondern der Versuch einer internationalen kriminellen Gruppierung, die Macht zu ergreifen.
Warum es in Russland keinen totalitären Staat gibt? Für Putin und seinen Clan besteht darin keine Notwendigkeit. Der Mafia-Staat greift nur nach den staatlichen Institutionen, die er braucht, um seine Ziele zu erreichen. Er wirft nur ein Minimum an Menschen ins Gefängnis, um alle anderen einzuschüchtern.
Das Gespräch führte Zhanna Nemzowa.
Masha Gessen ist eine russisch-US-amerikanische Journalistin und Schriftstellerin. Für ihr Buch "Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor" erhält sie den diesjährigen Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung. 2017 wurde sie mit dem National Book Award ausgezeichnet, neben dem Pulitzer-Preis der renommierteste Literaturpreis der USA.