Marathon: Die Medaille kommt per Post
1. Mai 2020Manuel Skopnik sieht abgekämpft aus auf dem Selfie, das er bei Facebook eingestellt hat. Kein Wunder, ist er doch gerade einen Marathon gelaufen. "Ein Novum!", steht da geschrieben, "Den eigentlich in Hannover geplanten Marathon inklusive Startnummer und Medaille vom Veranstalter zuhause als #StayAtHomeMarathon Hannover zu laufen - auf der vermessenen original Strecke des Königsforst Marathons - allerdings mit 342 Höhenmetern. Meine Zeit: 2:58:49 h."
Nachdem der "reale" Hannover-Marathon, der für den 26. April geplant war, wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden musste, war bei Veranstalterin Stefanie Eichel schnell der Plan gereift, den Teilnehmern Ersatz anzubieten. "Wir wollten aus einem Wochenende ohne Marathon ein Wochenende mit Marathon machen", sagt Eichel, die sich eigentlich auf die 30. Jubiläumsauflage des Laufs gefreut hatte. "Wir wussten, dass sich alle auf diesen Tag vorbereitet hatten. Wir wollten nicht, dass die Menschen an diesem Tag traurig, verloren und einsam sind. Dagegen wollten wir aktiv angehen - mental vereint."
Im Wohnzimmer oder im Freien
So konnten sich die ohnehin schon bis zur Absage im März angemeldeten 20.500 Starter für den #stayhomemarathon akkreditieren - Eichel vermeidet dabei bewusst den Begriff "anmelden" und nennt ihre Idee auch nicht Veranstaltung, sondern aus rechtlichen Gründen "Initiative". Inklusive der Nachmelder haben über 10.000 Läuferinnen und Läufer von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. 42,195 Kilometer an einem Tag zu laufen. Egal, ob im Wohnzimmer, im Garten oder unter Einhaltung der Schutzvorschriften draußen in freier Wildbahn. Die Startnummer und eine Medaille gab es schon im Vorfeld per Post.
Über die freut sich auch Manuel Skopnik, einer der besten Langstreckenläufer Deutschlands in seiner Altersklasse, der der 45- bis 49-Jährigen. Bei diversen Stadtmarathons durch die Häuserschluchten zu hetzen, ist seine Passion. Auch Wettkämpfe über noch längere Distanzen. Aber so ganz ohne Zuschauer, ohne Gegner?
Keine Bestzeiten erwünscht
"Ich fand die Idee toll" erklärt Skopnik gegenüber der DW seine Motivation. "Man will das, was man trainiert hat, ja auch in einer guten Zeit umsetzen. Für Hannover hatte ich unter idealen Bedingungen 2:45 Stunden geplant." Diese Zeit ließ sich aufgrund der Streckenwahl in einem Wald in der Nähe seines Wohnorts in Bergisch Gladbach bei Köln nicht umsetzen. "Das habe ich aber in Kauf genommen, weil mir die Landschaft dort gefällt. Das hat vermutlich ein paar Minuten gekostet. Aber das Ziel - unter drei Stunden - habe ich erreicht."
So war der einsame Lauf eine willkommene Abwechslung aus dem Alltags-Trainings-Trott. Auch wenn der Biologe, dessen Firma auch am Corona-Virus forscht, die Zuschauer am Streckenrand vermisst hat: "Ich habe mich nicht in Hannover beim Marathon gewähnt, sondern beim Königsforst-Marathon." Immerhin traf Skopnik auf den Waldwegen sogar drei weitere Teilnehmer am #StayAtHome-Marathon, erkennbar an ihren Startnummern, die sich allerdings nur an der halben Distanz versuchten.
Eine Ergebnisliste von diesem Lauf gibt es nicht. "Weil Gesundheit unbezahlbar und wertvoll ist", erklärt Stefanie Eichel im Gespräch mit der DW. "Wir wollten das Immunsystem gerade in Corona-Zeiten nicht durch Höchstleistungen überfordern, zumal es ja auch keine von uns organisierten Verpflegungspunkte und auch keine medizinische Betreuung gab." So gibt es nur eine alphabetische Teilnehmerliste. Das Gros der Sportler bei so einem Stadtmarathon sei ohnehin gar nicht so leistungsorientiert: "Für die meisten sind wir der Schweinehundbekämpfer."
Ersatz für London
Nicole Peters hat ihren Schweinehund schon etliche Male bekämpft. Allein im vergangenen Jahr hat die Chemikerin aus Köln neun Marathons absolviert, dazu noch etliche kürzere Laufwettkämpfe. Für sie hatte eigentlich an diesem Wochenende der London-Marathon auf dem Programm gestanden. Dort wollte sie sich einen Traum erfüllen, die Qualifikation für den legendären 42-Kilometer-Lauf in Boston schaffen. "Die London-Absage war richtig schlimm", sagt sie im Telefonat mit der DW, "da zog es mir den Boden unter den Füßen weg. Es dauerte mindestens eine Woche, bis ich das einigermaßen verarbeitet hatte."
Wer ermessen möchte, wie laufverrückt die 43-Jährige ist, mag das daran ablesen, dass sie ihren Mann - wen wundert es, einen Läufer - mitten in einem Marathon geheiratet hat. Beim Lauf in Las Vegas bogen beide bei Meile 4 in eine Wedding Chapel ab und gaben sich das Ja-Wort, um danach den Rest der Strecke wieder im Laufschritt zurückzulegen.
"Nur die Zuschauer fehlen"
Als nun London auf den Herbst verschoben wurde, meldete Peters kurzentschlossen für Hannover nach, um auch dort wenig später über die Absage informiert zu werden. Also ging's beim #StayAtHomeMarathon an den Start in heimischen Gefilden. "Ich habe mich so gefreut, dass da wenigstens so eine Art Wettkampf-Feeling aufkommt. Ich fühlte mich auch fast wie in Hannover an der Startlinie. Nur die Zuschauer haben gefehlt. Und das Bonbönchen waren die Medaillen."
Nicole Peters ist 3:51 Stunden gelaufen. Für die Qualifikation für Boston müsste sie gut elf Minuten schneller sein. "Aber ich musste mich mental auch ganz schön durchboxen", sagt sie. Die Motivation ist noch da, die Hoffnung auch, dass es bald wieder reale Läufe gibt. "Das nächste Ziel ist der Marathon von New York im November. Wenn der abgesagt würde, wäre das schon eine echte Enttäuschung."