"Man sieht zu wenig, wo es Fortschritte gibt"
7. August 2010DW-TV: Herr Außenminister, der Krieg in Afghanistan - ist das für Sie eigentlich ein politischer Albtraum?
Guido Westerwelle: Ich glaube, das ist etwas, dass sich niemand wünscht, erst recht nicht, dass er die politische Verantwortung in solchen Zeiten hat. Es ist ja eine Entscheidung, die vor vielen Jahren getroffen wurde, von der damaligen rot-grünen Bundesregierung noch. Und wir haben jetzt unsere Verantwortung wahrzunehmen. Wir haben auch gleichzeitig natürlich unseren Beitrag zu leisten, dass wir unsere eigene Sicherheit schützen, auch vor Terroranschlägen, unsere Bürgerinnen und Bürger schützen, soweit es geht. Und gleichzeitig haben wir ein großes Interesse daran, dass Afghanistan sich gut entwickelt, damit es wieder ein stabiles Land werden kann. Auch in Zukunft.
DW-TV: Zwei Afghanistankonferenzen hat es in diesem Jahr gegeben, eine in London, eine in Kabul. An beiden haben sie teilgenommen, eine haben sie stark mitgeprägt. Kann man eigentlich das Grundkonzept, das damals verabschiedet wurde – mehr Ausbildung der Polizei, mehr Ausbildung der Sicherheitskräfte, Versuche, die Taliban zu gewinnen, mitzuwirken in einem friedlichen Afghanistan, mehr ziviler Aufbau - kann man eigentlich nach einem halben Jahr sagen, dass es Fortschritte gibt? Oder ist das noch zu früh für eine Bewertung?
Westerwelle: Die Lage ist ja sehr unterschiedlich. Ich fürchte, wir werden bei der Sicherheitslage auch noch Rückschläge haben. Die Erntezeit geht jetzt zu Ende, die Erfahrung spricht dafür, dass das noch mal zu einer Verschärfung der Sicherheitslage führen kann. Umgekehrt, im Norden gibt es etwa 134 Distrikte. Lediglich in acht Distrikten gilt die Lage als besonders gefährlich. Das heißt, man muss auch sehen, dass wir nicht nur Straßen und Schulen gebaut und Mädchenschulen geöffnet haben, sondern, dass wir auch zu einer politischen Stabilisierung in diesen Regionen beigetragen haben. Und das ist ja auch das eigentliche Ziel. Das Ziel ist es ja auch, die Übergabe der Sicherheitsverantwortung im Jahr 2014 an die afghanische Regierung zu schaffen. Das ist das selbst gesteckte Ziel von Präsident Karzai. Und das ist auch die gemeinsame Vereinbarung der internationalen Fördergemeinschaft anlässlich der Afghanistankonferenz zuletzt in Kabul.
DW-TV: Trotzdem haben ja viele den Eindruck, dass es in Afghanistan nicht wirklich voran geht. Gibt es eigentlich eine Erklärung, warum beispielsweise der zivile Aufbau so stockend vorwärts geht?
Westerwelle: Ich bin der Auffassung, dass man das sehr unterschiedlich sehen muss. Es ist richtig: In einigen Bereichen verläuft die Entwicklung nicht gut. Aber es ist auch richtig, dass in anderen die Entwicklung auch positiv ist. Das muss auch gesehen werden. Man darf nicht vergessen: Wir sind ja dort, weil die riesige Mehrheit der afghanischen Bevölkerung es will. Und wir müssen jetzt aber auch gleichzeitig eine Strategieänderung durchsetzen, die wir zuerst in London und dann in Kabul noch mal beschlossen haben. Nämlich, dass es auch um die politische Aussöhnung geht
DW-TV: Gelingt es ihnen denn zunehmend, was ein früherer Verteidigungsminister gesagt hat, die Herzen der Afghanen zu gewinnen? Sind die Afghanen offen für diesen Weg?
Westerwelle: Alles, was wir wissen ist ja so, dass die breite Bevölkerung sehr wohl auch dankbar ist für das, was international da geleistet wird. Wenn man in Deutschland oder auch in anderen europäischen Ländern die Debatte verfolgt, sieht man die Rückschläge, man sieht die Anschläge, man sieht auch das, was nicht funktioniert. Aber man sieht zu wenig das, wo es auch Fortschritte gibt. Dass zum Beispiel bei der Friedens-Jirga 1.600 Delegierte anwesend gewesen sind, man sich dort auf eine gemeinsame Erklärung verständigt hat und etwa 20 Prozent dieser Delegierten Frauen waren. Das ist meiner Einschätzung nach etwas, was nicht genügend gewürdigt und beachtet wurde.
DW-TV: Afghanistan ist natürlich ohne seine Nachbarn gar nicht zu begreifen. Fangen wir mal mit Pakistan an. Eigentlich ein Verbündeter, aber wie man inzwischen entdeckt, zumindest in Teilen der Gesellschaft, eigentlich auch ein Gegner, manche sagen sogar ein Feind. Ein doppeltes Spiel des Landes, der Regierung.
Westerwelle: Auch da muss man die Erfolge sehen. Zum Beispiel ist es im Vorfeld der Afghanistankonferenz gelungen, dass auch ein Handelsabkommen zwischen Afghanistan und Pakistan geschlossen worden ist. Das hört sich in deutschen Ohren nicht sehr spektakulär an. Wenn man aber die Geschichte beider Länder kennt, dann ist das schon ein herausragendes Ereignis gewesen. Und dann gibt es noch etwas, das man sehen muss: Wir brauchen die Nachbarn, wir brauchen die Anrainer, wir brauchen die regionale Zusammenarbeit, um erfolgreich sein zu können. Und während in London noch ein Land gefehlt hat, Anfang des Jahres aus der Nachbarschaft, ist jetzt in Kabul die gesamte Region vertreten gewesen und hat sich auf diese Erklärung mit verständigt. Das bindet ja auch die Nachbarstaaten. Und dabei wollen wir sie auch ermutigen.
DW-TV: Es ist natürlich schwierig, sich das vorzustellen. Beispielsweise beim Iran, um den geht es ja in diesem Fall. Einerseits gibt es Sanktionen gegen dieses Land, man fürchtet die atomare Aufrüstung, man fürchtet auch Ahmadinedschad. Aber gleichzeitig muss man sie irgendwie einbinden, um Afghanistan zu stabilisieren. Ist so eine diplomatische Gratwanderung eigentlich realistisch?
Westerwelle: Sie ist notwendig, jedenfalls ist der Versuch notwendig. Wir sind ja in der EU oder auch bei den Vereinten Nationen nicht zu dem Ergebnis von Sanktionen gekommen, um uns gegen ein Land zu stellen oder dem Iran abzusprechen, die Nuklearkraft zivil zu nutzen. Sondern, wir wollen ja die iranische Regierung zurück an den Verhandlungstisch bringen. Zur Kooperation, zur Transparenz, sprich zu dem, wozu sich der Iran selbst verpflichtet hat. Denn jedes Land kann selbstverständlich auch die Atomkraft friedlich und zivil nutzen. Aber selbstverständlich muss auch jedes Land mit der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien zusammenarbeiten und durch vollständige Transparenz gewährleisten, dass es auch ausschließlich ein ziviles Projekt ist und nicht gewissermaßen im Versteckten an einer Bombe gebaut wird. Das gilt es zu verhindern. Wir sind unverändert bereit, auch mit dem Iran Gespräche aufzunehmen. Ich halte es auch gut für möglich, dass es Gespräche zwischen unserer europäischen Kollegin Cathie Ashton und der iranischen Seite noch im September geben kann, das ist denkbar. Das ist auch anzustreben. Aber es setzt eben auch voraus, dass der Iran vor allem kooperiert und zur Transparenz bereit ist. Und auch keine Vorbedingungen für umfangreiche und umfassende Gespräche aufstellt.
DW-TV: Der Krieg in Afghanistan wird ja von vielen Ländern skeptisch gesehen. In fast allen Ländern sogar mehrheitlich skeptisch gesehen. Wie lange glauben Sie jetzt nach acht Jahren Engagement in Afghanistan reicht die Geduld noch, um zu hoffen dass man das Ziel erreicht, das man erreichen will: ein einigermaßen friedliches Afghanistan?
Westerwelle: Ich halte das für eine sehr schwierige Frage. Ich kann uns nur raten, unsere eigenen Interessen nicht zu vergessen. Unser eigenes Interesse liegt zuerst darin, dass wir nicht zulassen wollen, dass diejenigen, die den Terror in die Welt exportieren oder die mit Terror auch gezielt staatlich zusammenarbeiten, Afghanistan wieder zur ihrem Rückzugs- und Aufrüstungsgebiet machen können. Man vergisst, dass ja auch Vieles hier geplant gewesen ist - und leider auch in Europa Anschläge stattgefunden haben. Deswegen rate ich uns dazu, zu Recht skeptisch zu sein - bei jedem Auslandseinsatz der Bundeswehr. Ich finde, es ist gesund, dass die Bevölkerung zunächst einmal eine gesunde Skepsis bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr hat. Aber ich rate uns auch, zu begreifen, dass es um unsere eigene Sicherheit geht. Und dass wir dementsprechend auch Erfolg haben müssen und Erfolg haben wollen. Allerdings mit einer klaren Abzugsperspektive, die wir uns gleichzeitig erarbeiten, indem wir jetzt mehr tun, zum Beispiel bei der Unterstützung von zivilem Aufbau.
Das Gespräch führte am 5. August 2010 Alexander Kudascheff
Redaktion: Marko Langer/Michael Borgers