"Man muss den Belgiern dankbar sein"
18. August 2014Üppige Ginsterbüsche, seltene Wildblumen, friedlich weidende Schafe. Trotzdem sind Wanderer auf der Dreiborner Höhe angehalten, die markierten Wege nicht zu verlassen, denn abseits droht Lebensgefahr. Niemand weiß, wie viele Minen noch unter der Flora schlummern - Altlasten aus militärischer Vergangenheit. Auch die Häuserruinen, auf die die Wanderer stoßen, die über die Anhöhe in der Eifel laufen, passen so gar nicht in diese großartige Landschaft: Es sind furchteinflößende Relikte aus einer Zeit, in der belgische Soldaten und NATO-Truppen in den 1990er Jahren den Häuserkampf für den Einsatz im Balkankrieg übten.
Erst die Nazis, dann die Belgier
Zwar sind die meisten Häuserattrappen längst abgerissen, aber aus Gründen des Denkmalschutzes sollen einige erhalten bleiben. An diesem Tag sehen sich Denkmalschützer wieder einmal in Wollseifen um, das man auch das "tote Dorf" nennt. Ihr Augenmerk gilt den zwei Ruinen neben den sogenannten Kampfhäusern, die von einer früheren Epoche erzählen: Es sind Reste der 1635 fertig gestellten Dorfkirche und die Mauern der früheren Dorfschule.
Alles andere haben britische Besatzungstruppen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg dem Erdboden gleichgemacht. 120 Familien, die hier in idyllischen Fachwerkhäusern lebten, wurden vertrieben. Ihr Pech: Das monumentale Ausbildungszentrum der Nazis, die NS-Ordensburg Vogelsang, lag in Blickweite des Dorfes. Vogelsang steht symbolhaft für das ideologische Staatsziel der Nazis, durch Erziehung und Indoktrination einen "neuen deutschen Menschen" im Sinne eines "völkischen" Idealbildes zu formen. Auf 50.000 Quadratmetern Fläche war der Gebäudekomplex hochgezogen worden, ehe der Zweite Weltkrieg die Ambitionen der Nazis stoppte.
"Wir wollen alles erhalten, was Aussagefähigkeit hat - aus der NS-Zeit, aber auch aus der belgischen Phase, die ja über 60 Jahre dauerte", erklärt Monika Herzog vom Amt für Denkmalpflege. Sie selbst hat einmal ein NATO-Manöver hautnah miterlebt: "Es hatte durchaus etwas Erschreckendes, weil alles voller Panzer, voller Soldaten war. Ich hatte plötzlich das Gefühl, mitten in einem Krisengebiet zu sein." Herzog will den heutigen Generationen die Vergangenheit erklären und veranschaulichen, "warum wir froh sein können, dass wir das so hier nicht mehr brauchen".
Alte Trauer über den Verlust der Heimat
Ihre ganz eigenen Erinnerungen verbinden Zeitzeugen wie Franz-Josef Sistig und Luc Bruylandt mit diesem Ort. Der eine hat seine Kindheit in Wollseifen verbracht, der andere war als Offizier der belgischen Armee stationiert. Nach dem Abzug der Truppen ist er mit seiner Familie in der Eifel geblieben. An diesem Tag treffen sich die beiden Männer zum ersten Mal in ihrem Leben, tauschen Erlebnisse aus. "Unter uns liegen noch Tote, die nicht umgebettet wurden", sagt Sistig, ein imposant großer Mann von 84 Jahren, und seine Augen füllen sich mit Tränen. Eigentlich wolle er gar nicht mehr über die Zeit reden, die ihm nachts den Schlaf raubt. Mit den Jahren seien die Albträume schlimmer geworden, die Erinnerungen deutlicher, detailgenauer. Das Erlebte hat er nie aufarbeitet, nur verdrängt.
Die beiden Männer haben schnell einen Draht zueinander gefunden. Sinzig, der Ältere, Jahrgang 1929, erzählt von kindlichen verbotenen Badetouren zum Urftsee, vom Kühe hüten auf der Weide, von winterlichen Schlittenfahrten auf der abschüssigen Dorfstraße. Er habe eine glückliche Jugend erlebt, bilanziert Sistig, die aber jäh endete. Er gehörte zu den 500 Wollseifenern, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs von heute auf morgen vertrieben und obdachlos wurden. 17 Jahre alt war er damals. Die meisten Dorfbewohner seien unpolitisch gewesen, doch das half ihnen nicht. Die Briten erklärten das Gebiet zur militärischen Sperrzone. Und die belgische Armee, die 1950 das Oberkommando übernahm, richtete einen Truppenübungsplatz ein. Die Soldaten nutzten die NS-Gebäude als Kaserne "Camp Vogelsang". An diesem historisch bedeutsamen Ort war der Offizier Luc Bruylandt während seiner letzten 20 Berufsjahre stationiert. Ursprünglich stammt er aus Flandern, wo sich im Ersten Weltkrieg Deutsche, Franzosen und Briten blutige Schlachten lieferten. Das prägte ihn und seine Generation so nachhaltig, dass er beschloss, Soldat zu werden. Das Schicksal brachte ihn nach Deutschland: "Als Soldat hat man keine Wahl", sagt er.
Der Pragmatismus der Belgier
"Man muss den Belgiern dankbar sein, dass sie so pragmatisch waren und so viel erhalten haben", sagt Christin Wannagat, die lange für Vogelsang IP tätig war, kurz für Internationaler Platz Vogelsang. Wannagat erzählt von den zahlreichen Überlegungen zur Nutzung der historisch belasteten Anlage: Sie reichten von einem Golfhotel über eine Jugendherberge, Ferienanlage, Dialysestation bis hin zum Museum. Nun entsteht ein Ausstellungs- und Bildungszentrum auf dem historisch belasteten Gelände: Besucher sollen ab 2015 die Gelegenheit erhalten, sich dort kritisch mit der NS-Zeit auseinander zu setzen. Sie können sich auch über die 60-jährige Präsenz der Alliierten informieren.
Der ehemalige Offizier Luc Bruylandt begleitet heute schon Interessierte auf Vogelsang. Bei seinen Führungen über den weitläufigen Grund erzählt er Anekdoten und Fakten in vier Sprachen: "Die Nazis wollten hier ein gigantisches Wissenszentrum errichten. Dazu gehörte ein Hörsaal für 1100 Junker, doch dann brach der Krieg aus. Die Belgier fanden später eine riesige schräge Betonfläche vor und bauten das Gebäude in ein Kino für die Soldaten um. Es hat eine hervorragende Akustik und sogar einen Orchestergraben."
Das öffentliche Interesse an "Vogelsang" groß. Täglich kommen ganze Busladungen mit Besuchern an, die Interesse an der Geschichte und der monumentalen Architektur haben. Gleichzeitig genießen sie die weitgehend unberührte Natur, die sich in dem ehemaligen militärischen Sperrgebiet voll entfalten konnte: Mehr als 900 bedrohte Tier-und Pflanzenarten haben sich angesiedelt, andere haben sich angepasst: "Die Rehe wussten damals schon genau, dass am Wochenende nicht geschossen wurde", erzählt Luc Bruylandt. "Dann kamen sie bis zur Küchentür der Kaserne, während sie sich an anderen Tagen im Gebüsch versteckten."