Magnus Carlsen - ein eigenwilliges Genie
6. November 2014Es scheint nicht viele Dinge zu geben, die dem amtierenden Schach-Weltmeister Magnus Carlsen nicht gelingen. Das ehemalige Schach-Wunderkind aus Norwegen wurde schon mit 13 Jahren Großmeister. So früh wie kein anderer Schachspieler der Welt übernahm Carlsen im Januar 2010 die Spitzenposition in der Weltrangliste. Damals war er gerade einmal 19 Jahre und zwei Monate alt. Seine ELO-Zahl, ein Messwert, der die Spielstärke von Schachspielern bewertet, lag im Mai 2014 bei 2882 Punkten, dem höchste Wert, der je ermittelt wurde. Zuvor hielt der ehemalige russische Weltmeister Garry Kasparow mit 2851 Punkten die Bestmarke. Zwischen 2009 und 2012 gewann Carlsen jeweils den Schach-Oscar, einen Preis, der von Journalisten, Trainern, Funktionären und Turnierorganisatoren an den Schachspieler vergeben wird, der in den vorausgegangenen zwölf Monaten die besten Leistungen gezeigt hat. Carlsen besitzt ein fotografisches Gedächtnis. Mit verbundenen Augen kann er seine Gegner besiegen. Alle Züge und Positionen merkt er sich und gewinnt - blind, an zehn Brettern gleichzeitig.
Nebenher bedient der hochintelligente Carlsen in keinster Weise das Image des vergeistigten Stubenhockers, das vielen Schachspielern (oft zu Recht) anhaftet. Er trainiert nicht nur seinen Kopf, sondern auch seinen Körper, spielt Fußball und frönt im Sommer an der südnorwegischen Küste dem Wassersport - Schwimmen, Fischen, Jetski fahren. Carlsen modelt in seiner Freizeit und ist das Gesicht einer weltweiten Werbekampagne der niederländischen Jeansmarke "G-Star". Allein durch seine Werbeverträge ist Carlsen bereits Millionär geworden. Die Preisgelder, die er für seine Turniersiege erhält - rund eine Million Euro Prämie für den WM-Sieg als Krönung - tun ihr Übriges.
Seit Neuestem verdient Carlsen auch mit einer App Geld. "Do you dare play Magnus?" - "Traust du dich, gegen Magnus zu spielen?", fragt er auf seiner offiziellen Internetseite. Schachspieler können sich durch Siege gegen einen Computer, der die Spielstärke von Carlsen in verschiedenen Altersstufen simuliert, für ein echtes Duell mit dem Weltmeister qualifizieren. Zu Anfang spielt man gegen den fünfjährigen Magnus, 18 Schwierigkeitsstufen später gegen den erwachsenen Weltmeister Carlsen.
Norwegen einig Carlsen-Land
In seiner Heimat löst der 23-Jährige regelrechte Euphorie aus. Die Übertragung seiner WM-Partien gegen den Inder Viswanathan Anand sprengten im vergangenen Jahr alle Quotenrekorde. Rund drei der fünf Millionen Einwohner Norwegens saßen gebannt vor dem Bildschirm und fieberten mit. Obwohl Wintersportarten wie Skilanglauf, Biathlon oder Skispringen in Norwegen viel populärer sind als Schach, wurde Carlsen anschließend sogar zum Sportler des Jahres gewählt. Den Medien und dem Hype, der um seine Person gemacht wird, steht Carlsen eher kritisch gegenüber. Er gilt als zurückhaltend, fast medienscheu. "Ich wirke wohl manchmal verkniffener als ich eigentlich bin", sagte Carlsen vor ein paar Wochen in einem Interview mit dem Magazin "sport inside" des Westdeutschen Rundfunks (WDR) über sich selbst. "Das kommt vielleicht daher, dass ich als Kind keine Interviews mochte."
Auch heute noch steht Carlsen den Medien nur selten Rede und Antwort. Eine Gesprächsanfrage der DW wurde freundlich aber bestimmt abgelehnt. Die gesamte Konzentration soll in den Wochen vor der WM dem erneuten Duell mit Anand gelten. Wer dennoch wissen möchte, was Carlsen treibt und wo er sich aufhält, wird auf dessen Facebook-Seite recht gut informiert. Hier sieht man ihn auf geposteten Fotos auch des Öfteren lachen, zum Beispiel, wenn er nach dem Besuch einer Disney-Zeichenwerkstatt mit albernem Donald-Duck-Hut posiert oder wenn er sich im feinsten Anzug präsentiert und strahlend meldet: "Freue mich darauf, den Präsidenten von Indien zu treffen."
Bedenken gegen Sotschi
Am Brett gilt Carlsen als Genie. Er ist stets in der Lage, eine perfekte Partie zu spielen. Manchmal aber geht er auch gerne ein unnötig hohes Risiko ein und testet dann überraschende Varianten in seinem Spiel aus - wodurch er schon so manche Niederlage kassierte. So geschehen bei der Schach-Olympiade im August. Ausgerechnet vor heimischem Publikum in Tromsö unterlag Carlsen dem Deutschen Arkadij Naiditsch und dem Kroaten Ivan Saric. Zwei Niederlagen bei einer Schacholympiade waren einem amtierenden Weltmeister noch nie unterlaufen. Team Norwegen landete schließlich nur auf einem enttäuschenden 29. Rang. Kritik an seinem Spielstil ficht Carlsen nicht an. Er sieht jede einzelne Partie vielmehr als einen Schritt auf dem Weg zur Perfektion. "Ich glaube, dass ich seit jeher die gleiche Einstellung habe", sagte Carlsen dem WDR. "Ich will lernen, um besser zu werden. Das ist meine Motivation für jedes Spiel."
Bei der Schach-Weltmeisterschaft, bei der er sich bis zum 28. November in der russischen Olympia-Stadt Sotschi erneut mit Anand misst, motiviert ihn auch die Aussicht, erneut zu beweisen, dass er der Beste ist. Dabei wäre es fast gar nicht zur Neuauflage gekommen: Erst kurz vor Ablauf der Frist unterschrieb Carlsen Anfang September den WM-Vertrag. Anand hatte da längst unterzeichnet. Der Norweger hatte gezögert, weil er vor dem Hintergrund der Situation in der Ukraine und den daraus entstandenen Konflikten mit Russland mit der Wahl von Sotschi als Austragungsort sehr unzufrieden war. Zudem missfielen ihm die finanziellen Konditionen des WM-Duells. Doch sein Versuch, den Zweikampf mit Anand an einen anderen Ort zu verlegen, scheiterte. Hätte der Champion seine Unterschrift verweigert, wäre der WM-Titel für ihn verloren gewesen. Nun freut er sich auf das Duell um die WM-Krone: "Ich glaube, Anand wird besser vorbereitet sein als letztes Mal", sagte Carlsen dem WDR und grinste dabei: "Aber ich auch!"