Machtkampf am Hindukusch
10. Oktober 2003Eine eindeutige Bestätigung für die Freilassung des ehemaligen Taliban-Außenministers Mullah Wakil Ahmed Muttauakil ist nach wie vor nicht zu erhalten. Aus Kreisen der afghanischen Regierung und im Freundeskreis Muttauakils hieß es, der ehemalige Taliban-Außenminister sei etwa 60 Kilometer nördlich von Kabul aus seiner Haft im Militärflughafen von Bagram entlassen worden und lebe jetzt mit seiner Familie im südafghanischen Kandahar.
Allerdings könnte sie durchaus den Interessen der beteiligten Akteure entsprechen. Zum einen denen der Amerikaner: Sie könnten Interesse haben, zumindest diejenigen Taliban-Kämpfer, die als vergleichsweise gemäßigt gelten, zur Aufgabe ihres militärischen Widerstands zu bewegen. Doch auch der afghanische Präsident Hamid Karsai könnte von einer Freilassung profitieren: Er hatte unlängst erklärt, er sehe nicht alle Vertreter des ehemaligen Taliban-Regimes als Verbrecher an. Der Hintergrund ist klar: Der vom Westen geförderte Karsai will seine politische Machtbasis ausweiten und sucht dafür im politisch und ethnisch vielschichtigen Afghanistan die Unterstützung möglichst vieler Clans und Gruppen.
Gerrangel um die Macht
Für Karsai ist dies gerade jetzt wichtig - denn möglicherweise steht schon im Dezember eine weitere traditionelle Ratsversammlung (Loya Djirgah) bevor. Und der gemäßigte Paschtune Karsai, der bisher faktisch nur in Kabul und Umgebung herrscht, ist aus seiner Lage heraus geradezu gezwungen, seine Machtposition auszubauen. Noch immer macht ihm nämlich sein Konkurrent und tadschikischer Rivale, der mächtige Verteidigungsminister Mohammed Fahim zu schaffen.
Anders als Fahim verfügt Karsai trotz Rückendeckung der USA über keine eigene militärische Hausmacht. Er steht auch keiner Partei oder ähnlichen Organisation vor. Deshalb versucht Karsai schon seit längerem, in intensiven Gesprächen mit unterschiedlichen politischen Kreisen des Landes eine breite, die verschiedenen politischen und ethnischen Gruppen übergreifende Rückendeckung zu gewinnen.
Taktischer Zug
Der jetzt offenbar freigelassene ehemalige Taliban-Außenminister Muttauakil könnte für Karsai zu denjenigen "gemäßigten" Taliban zählen, die der afghanische Präsident unlängst zumindest indirekt zur Kooperation ermutigt hatte. Allerdings: Die Reaktion auf diesen Appell war in Teilen der afganischen Öffentlichkeit - vor allem bei Gegnern und Opfern des ehemaligen Taliban-Regimes - so negativ, dass Beobachter vor einer neuerlichen Polarisierung warnten und Karsai selbst sich gezwungen sah, sein Gesprächsangebot zu relativieren.
Eine Freilassung Muttauakils könnte tatsächlich darauf hindeuten, dass er zumindest versucht hat, die verbleibenden Taliban-Milizen im Süden und Osten Afghanistans zur Einstellung ihrer Kampfhandlungen zu überreden. Zu diesem Zweck - so wird in afghanischen Regierungskreisen kolportiert - soll er aus der Haft heraus zwischen Amerikanern und hohen Taliban-Vertretern vermittelt haben. Erfolge sind zwar noch nicht sichtbar. Aber möglicherweise ist sein Einsatz trotzdem mit der Entlassung aus amerikaner Haft belohnt worden.
Taliban-Mann der ersten Stunde
Kritik an diesem Schritt ist zu erwarten, denn Muttauakil ist ein Taliban-Mann der ersten Stunde. Von Beginn des Einmarsches der Taliban-Milizen in Kandahar 1994 war er aktiv am Aufbau des despotischen Regimes beteiligt. Der 37-Jährige stammt aus dem Maiwand-Bezirk im Westen der Provinz Kandahar und besuchte später in der pakistanischen Stadt Quette ausschließlich Koran-Schulen. Er galt auch als enger Vertrauter von Nasierullah Baber, dem ehemaligen Innenminister Pakistans und geistigen Vater der Taliban-Milizen. Schon damals wurde ihm auch Nähe zum ISI, dem pakistanischen Militärgeheimdienst, nachgesagt.
1999 übernahm Muttauakil mit uneingeschränkter pakistanischer Zustimmung das Kabuler Außenministerium. In seiner Amtszeit machte sich Osama bin Ladens El-Kaida in Afghanistan breit. Darüber hinaus hat er als hohes Mitglied des Taliban-Rates in Kabul die jährliche Marschbefehle gegen die Taliban-Gegner im Norden und die Massakrierung von Tausenden von Zivilisten mitzuverantworten.
Obwohl Muttauakil oft als "gemäßigter" Taliban-Vertreter dargestellt wird, sagen Kritiker schon jetzt: Seine Freilassung ohne Begründung durch ein ordentliches Gerichtverfahren sei ein falsches Signal an die Adresse aller potentiellen Polit-Verbrecher in Afghanistan.