Lügde-Prozess vor dem Ende
4. September 2019Roman von Alvensleben hat schon in viele menschliche Abgründe geschaut, doch der Fall Lügde ist so erschütternd, dass selbst der erfahrene Rechtsanwalt das Lesen der Akte kaum ertragen konnte und ihm dabei schlecht wurde. Von Alvensleben vertritt das heute zehnjährige Mädchen, das mit ihrer Aussage die Ermittlungen gegen den mutmaßlichen Haupttäter Andreas V. ins Rollen gebracht hat.
Als dessen Mutter in seiner Kanzlei auftauchte, "habe ich die Frau erst einmal nicht für voll genommen, weil ich mir das alles gar nicht vorstellen konnte", erinnert sich der Jurist. Bis heute kann von Alvensleben nicht begreifen, dass "jemand ein über Jahre angelegtes Missbrauchssystem unterhalten kann, ohne dabei aufzufallen, und dabei von der Behörden, sprich Jugendämtern, quasi noch begleitet wird."
14 Terabyte Datenmaterial
Mehr als 40 Kinder zwischen drei und 14 Jahren sollen auf dem Campingplatz der Kleinstadt Lügde sexuell missbraucht worden sein. Allein die Anklage gegen den Dauercamper Andreas V. umfasst 298 Straftaten. Auch der Nachbar Mario S. soll Kinder sexuell missbraucht, Heiko V. per Livechat dabei zugeschaut und Anweisungen gegeben haben. Ausgewertet wurde die unfassbare Menge von 14 Terabyte Datenmaterial mit über drei Millionen Fotos und 86.000 Videos.
Von Alvensleben prangert die Schieflage in Deutschland an: "Wenn ein gut situiertes junges Ehepaar ein Kind adoptieren will, muss es im Grunde alles offenlegen und wird trotzdem erhebliche Schwierigkeiten haben. Und hier haben wir einen seit 20 Jahren arbeitslosen Mann, der auf einem Campingplatz lebt und dann ein Pflegekind bekommt. Und wo es zu diesem Zeitpunkt schon Hinweise auf Pädophilie geben hat."
Perfides Missbrauchssystem
Andreas V., der sich von den Kindern nur "Addy" nennen lässt und für den die Staatsanwaltschaft 14 Jahre Haft und eine anschließende Sicherungsverwahrung fordert, hatte das Missbrauchssystem auf seinem heruntergekommenen Campingareal immer weiter perfektioniert. Mit einem Trampolin, Ausflügen in Freizeitparks und sogar einem Pony lockt er seine Opfer an, missbraucht sie, oftmals auch mit Gewalt, und setzt die Mädchen massiv unter Druck, ja nichts zu erzählen. Das Jugendamt in Hameln-Pyrmont vertraut ihm trotzdem sogar ein Pflegekind an, das der heute 56-Jährige fortan als Köder benutzt.
Jede Woche schauen Familienhelfer der Stadt vorbei, treffen Andreas V. manchmal nur mit Bademantel und Unterhose an, sehen Mädchen in seinem vermüllten Campingwagen spielen - und merken angeblich nichts. Als eine Mitarbeiterin des Jugendamtes doch misstrauisch wird, greift sie nicht ein und löscht stattdessen die Notiz. Es werden sogar Akten nachträglich manipuliert, um die Stadt von jeglichem Fehler reinzuwaschen.
"Polizeiversagen" und "Debakel"
Gegen die Mitarbeiter des Jugendamtes wird wegen Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht ermittelt, wie auch gegen die Polizei in Lippe. Trotz klarer Hinweise auf sexuellen Missbrauch wird diese nicht tätig, ein Koffer mit 155 CDs und DVDs Beweismaterial verschwindet spurlos auf dem Polizeirevier - erst Wochen später wird dies überhaupt bemerkt.
Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul spricht von einem "Polizeiversagen" und einem "Debakel". Roman von Alvensleben geht noch weiter: "Das kann ja alles nicht mehr nur fahrlässig sein, wenn bei der Durchsuchung auch noch ein Schuppen übersehen wird und das Abrissunternehmen dort weitere CDs findet." Auch die ersten Vernehmungen mit den Opfern seien "eher suboptimal gelaufen, weil die Polizei gar nicht sensibilisiert ist, wie sie mit Kindern in einer Vernehmung umgehen muss."
Der Anwalt kann noch weitere Beispiele für das kollektive Versagen aller Behörden nennen: "Wenn sich die Opferschutzbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen mit einem offiziellen Briefumschlag an alle Opfer wendet, und der Postbote diese Briefe dann verteilt, kann man auch gleich ein O für Opfer an die Hauswand malen." An diesem Donnerstag geht am Landgericht Detmold der Prozess mit den Urteilen gegen die beiden Hauptangeklagten Andreas V. und Mario S. zu Ende, aber schon jetzt steht für Roman von Alvensleben eines fest: "Der Missbrauch an Kindern wird in unserer Gesellschaft gar nicht so richtig ernst genommen."
Ein bis zwei Missbrauchsopfer pro Schulklasse
Der Mann, der dafür sorgen soll, dass sich dies ändert, heißt Johannes-Wilhelm Rörig. Eine Herkulesaufgabe für den Juristen, der seit 2011 Unabhängiger Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs ist. Für Rörig sind die schwerwiegenden Defizite im Kinderschutz und bei den polizeilichen Ermittlungen nicht neu: "Es ist überhaupt nicht auszuschließen, dass ähnliche Fälle derzeit irgendwo anders in Deutschland stattfinden. Und es ist auch nicht auszuschließen, dass nicht auch andere Jugendämter Hinweisen nicht mit der notwendigen Sorgfalt und Fachlichkeit nachgehen, weil sie überlastet sind oder ihnen Kenntnisse für die Besonderheiten des sexuellen Missbrauchs fehlen."
Der Jurist zählt auf, dass es im vergangenen Jahr 12.321 Ermittlungs- und Strafverfahren wegen sexuellen Kindesmissbrauchs gegeben habe. "Und dies sind nur die angezeigten Fälle, die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Wir müssen von einem bis zwei Kindern in jeder Schulklasse ausgehen." Erschütternde Zahlen. Wenn der Horror von Lügde am Ende vielleicht etwas nützt, dann, dass die bundesweite Aufmerksamkeit jetzt da ist, um endlich längst überfällige Verbesserungen im Kinderschutz in Deutschland durchzusetzen.
Kinderschutz künftig vor Datenschutz?
Mit Familienministerin Franziska Giffey hat der Bundesbeauftragte die bundesweite Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne "Wir vor Ort gegen sexuelle Gewalt" gestartet, möchte Schutzkonzepte an Schulen einführen (nach einer Studie des Deutschen Jugendinstitutes ist derzeit nur jede 25. Schule in Deutschland gut für dieses Thema gerüstet) und die Einsetzung von Missbrauchsbeauftragten in jedem einzelnen Bundesland durchsetzen. Doch viele der Länder haben auf Rörigs Vorschlag nicht einmal reagiert.
Und dann ist da noch die Kinderpornografie im Netz, die Rörig mit allen Mitteln bekämpfen will. Mit höheren Mindeststrafen für die Täter und dadurch, dass in Zukunft Kinder- vor Datenschutz gehen soll: "Wir müssen alles dafür tun, dass Kriminelle sich im Netz nicht mehr so sicher fühlen, wie sie es heute leider noch können."