Lula und Macron: Es gibt viel zu besprechen
22. Juni 2023Wenn Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ab heute bei seinem französischen Amtskollegen Emmanuel Macron in Paris zu Gast ist, macht der Sozialist eigentlich einen Nachbarschaftsbesuch. Das größte Land Südamerikas grenzt im Norden an das Überseedepartement Französisch-Guyana.
Die geografische Verbundenheit, aber auch historische Erfahrungen sind ein Grund für die frankophile Haltung vieler Brasilianer: Frankreich erkannte 1825 als einer der ersten Staaten Europas die Unabhängigkeit Brasiliens an. Brasilien wiederum kämpfte im 20. Jahrhundert in beiden Weltkriegen an der Seite Frankreichs. Zu keinem anderen Land auf dem Kontinent sind die Beziehungen Frankreichs so eng wie zu Brasilien.
Auch bei seinem jüngsten Aufstieg zur dominierenden Regionalmacht Südamerikas stützte sich Brasilien auf Frankreich. Im Jahr 2000 vermachte die Regierung in Paris der brasilianischen Marine ihren ausgemusterten Flugzeugträger und vereinbarte wenige Jahre später den Bau einer neuen U-Boot-Generation. Das erste Exemplar der französischen Scorpène-Klasse wurde im vergangenen Herbst in Dienst gestellt. Bis Ende des Jahrzehnts soll in Brasilien mit französischer Unterstützung auch das erste Atom-U-Boot gebaut werden.
Neustart nach Bolsonaro
Die jahrzehntelang guten Beziehungen beider Länder waren allerdings während der Präsidentschaft Jair Bolsonaros zwischen 2019 und 2022 auf einen Tiefpunkt gesunken. Macron nahm die von dem rechtsextremen Politiker befürworteten Brandrodungen im Amazonasgebiet zum Anlass, das Freihandelsabkommen mit der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur zu blockieren. Bolsonaro wiederum reagierte darauf auf Facebook, wo er sich über Macrons Ehefrau Brigitte lustig machte.
Wenn der 77 Jahre alte Lula nun für zwei Tage nach Frankreich kommt, feiern beide Seiten den Neustart. Persönliche Animositäten zwischen Macron und Lula gibt es nicht. Im Gegenteil: Der frühere Gewerkschafter hatte sogar öffentlich für die Wiederwahl Macrons 2022 geworben, und die bisherigen Kontakte beider Staatenlenker werden als sehr herzlich beschrieben.
"Brasilien zuerst"
Inhaltlich gibt es jedoch bei zentralen Themen große Differenzen. "Man muss in Europa zur Kenntnis nehmen, dass Brasilien und die Europäische Union (EU) unterschiedliche geopolitische Perspektiven haben", sagt der Politikwissenschaftler und Lateinamerika-Experte Peter Birle, der derzeit in Brasilien arbeitet.
"Europa will letztlich die bestehende Weltordnung stabilisieren, Brasilien will sie verändern. Nicht grundlegend, aber so, dass Brasilien mehr Mitspracherecht bekommt. Und dafür nutzt es alle Möglichkeiten."
Zu den großen Differenzen zählt unter anderem die Perspektive auf den Krieg in der Ukraine. Zwar verurteilte Brasilien in der UN-Vollversammlung die russische Aggression gegen die Ukraine, ein Bruch mit Moskau oder Peking kommt für Brasília aber nicht in Frage. Im Gegenteil: Mehrfach hatte Lula sogar erklärt, Russland und die Ukraine trügen gleichermaßen Schuld am Krieg.
Streit um Umweltschutz
Auch die europäische Sanktionspolitik gegenüber Russland lehnt Lula ab. Als Bundeskanzler Scholz Anfang des Jahres in Brasilien für die Lieferung brasilianischer Munition für die in der Ukraine eingesetzten deutschen Panzer warb, blitzte er bei dem ehemaligen Arbeiterführer ab.
Anders als für die Europäer sei der Ukraine-Krieg für Brasilien keine Zeitenwende, sondern ein weiterer internationaler Konflikt, meint Politikwissenschaftler Birle. "Ich sehe keine Anzeichen dafür, dass sich diese Haltung ändern könnte." Lula hofft eher auf eine Vermittlerrolle zwischen den Kriegsparteien, was derzeit allerdings auch kaum realistisch erscheint.
Doch nicht nur beim Thema Ukraine ist eine Annäherung zwischen Brasilien und Frankreich schwierig. Auch das Mercosur-Abkommen zur Bildung der größten Freihandelszone der Welt ist ein Konfliktthema.
Das Abkommen zwischen der EU und einigen südamerikanischen Staaten liegt seit dem Ende der Verhandlungen 2019 auf Eis. Nach dem Machtwechsel von Bolsonaro zu Lula wächst nun aber der Druck der EU, endlich Fortschritte bei den laufenden Nachverhandlungen zu erzielen.
Brasilianisches Machtstreben
"Sie haben Brasilien wieder dahin gebracht, wo es hingehört, als Global Player, als Führer in der demokratischen Welt", lobte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Lula Anfang Juni auf ihrer Lateinamerika-Reise. Doch sobald es um Details geht, wird es schwierig.
Der zweitgrößte Handelspartner der EU sperrt sich gegen verbindliche schärfere Umweltauflagen in einem Zusatzprotokoll. Gegenüber der EU betont Lula lieber übergeordnete Interessen: "Die Basis zwischen strategischen Partnern sollte gegenseitiges Vertrauen sein, nicht Misstrauen und Sanktionen". Lulas eigenes Umwelt- und Amazonasschutzkonzept scheiterte bislang in dem von Bolsonaro-Anhängern dominierten Kongress.
Lula, der schon in seiner ersten Amtszeit vor 20 Jahren beharrlich daran gearbeitet hat, Brasilien als Global Player zu positionieren, sieht sein Land durch die jüngsten Entwicklungen gestärkt. Da Russland als Rohstoff- und Energielieferant für Europa zumindest mittelfristig ausfällt und sich die EU auch von China unabhängiger machen will, kommt der Regionalmacht eine Schlüsselrolle zu.
Das Land verfügt mit rund 22 Millionen Tonnen über die weltweit zweitgrößten Reserven an Seltenen Erden. Zudem bietet es ideale geografische und klimatische Bedingungen für die Produktion von grünem Wasserstoff.
Macron unter Druck
Brasilien wiederum ist zwar auch an einem Ausbau der Beziehungen zu den Europäern interessiert, doch China als mittlerweile wichtigster Handelspartner bietet bilaterale Verträge mit deutlich weniger harten Bedingungen.
Während der deutsche Bundeskanzler den Wunsch der EU-Kommission nach einem schnellen Abschluss des Mercosur-Abkommens unterstützt, muss Macron in dieser Frage vorsichtiger agieren.
In Frankreich ist der Widerstand gegen das Freihandelsabkommen seit Jahren ungebrochen. Noch vor Lulas Besuch forderte die Nationalversammlung die Regierung in einer Resolution auf, dem Abkommen nicht zuzustimmen.
Hinter der Kritik der Abgeordneten an fehlenden Umweltstandards steht vor allem die Sorge französischer Landwirte vor der wachsenden Konkurrenz aus Südamerika. Macrons Wunsch, auch die Länder des Globalen Südens nicht zu vernachlässigen, die der Eindämmung Russlands kritisch gegenüberstehen, beißt sich in diesem Fall also mit den innenpolitischen Realitäten. Der brasilianisch-französische Neustart muss noch einige Hürden nehmen.