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Politik

Lukaschenko als Moskaus Erfüllungsgehilfe

16. November 2021

Hat der belarussische Machthaber Lukaschenko die Migrationskrise selbst oder auf Weisung des Kremls initiiert? Wie wichtig ist die Abstimmung zwischen Moskau und Minsk? Die DW hat mit europäischen Experten gesprochen.

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Alexander Lukaschenko (links) und Wladimir Putin im Kreml (Archiv)
Alexander Lukaschenko (links) und Wladimir Putin im Kreml (Archiv)Bild: Shamil Zhumatov/AP Photo/picture alliance

Tausende Menschen sitzen seit Wochen an der belarussisch-polnischen Grenze fest. Die EU wirft dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko vor, Menschen aus Nahost per Linienflug nach Belarus und dann weiter zur polnischen Grenze zu bringen - vermutlich als Reaktion auf Sanktionen, die die EU wegen der Unterdrückung der Zivilgesellschaft und der Opposition in Belarus erlassen hat.

Politiker aus Polen und dem Baltikum hatten von vorneherein erklärt, Russlands Präsident Wladimir Putin unterstütze den belarussischen Machthaber  bei dem Vorgehen an der Ostgrenze von EU und NATO. Inzwischen haben sich auch westeuropäische Politiker dieser Ansicht angeschlossen. So machte der geschäftsführende deutsche Innenminister Horst Seehofer nicht nur Lukaschenko, sondern auch Putin Vorwürfe. "Alle EU-Staaten müssen hier zusammenstehen, weil Lukaschenko mit Unterstützung von Russlands Präsidenten Wladimir Putin die Menschenschicksale benutzt, um den Westen zu destabilisieren. Deshalb müssen wir jetzt zusammenstehen. Das können Polen oder Deutschland nicht allein bewältigen“, sagte Seehofer vergangene Woche in einem Interview mit der "Bild"-Zeitung.

Hatte Lukaschenko Hilfe von Putin?

Pavel Havlicek von der in Prag ansässigen "Association for International Affairs" glaubt, Lukaschenko hätte durchaus selbst darauf kommen können, Menschen für politische Zwecke zu instrumentalisieren. "Minsk hatte bis zur Verhängung der europäischen Sanktionen mit der EU über Visaerleichterungen verhandelt", so der Experte. In Sachen Migration und Visa kenne sich der Machthaber daher bestens aus.

Arkady Moshes, Experte für die Länder der EU-Ostpartnerschaft und Russland
Arkady Moshes, Experte für die Länder der EU-Ostpartnerschaft und RusslandBild: DW/E.Daneiko

Arkady Moshes, Direktor des Forschungsprogramms EU-Ostpartnerschaft und Russland am "Finnish Institute of International Affairs" (FIIA), meint ebenfalls, belarussische Geheimdienste hätten selbst ohne die Hilfe ihrer russischen Kollegen den Transfer von Geflüchteten und Migranten aus dem Nahen Osten an die Grenzen Litauens, Polens und Lettlands organisieren können. "Das Netz der Geheimdienste in Belarus ist eng verzweigt und komplex. Noch vor zehn Jahren durfte ein Dutzend von ihnen Durchsuchungen durchführen und ermitteln. Wie viele dies heute noch dürfen, weiß ich nicht. Aber zu so einer Operation sind sie in der Lage", erklärt Moshes.

Der Journalist und Experte für russische Geheimdienste Andrej Soldatow glaubt ebenfalls, dass Minsk bei dieser Operation auf Moskaus Hilfe nicht angewiesen sei. "Lukaschenkos Geheimdienste haben gute Kontakte in die Türkei und in den Nahen Osten, aber Moskau wurde vorher informiert", so Soldatow.

Andrei Soldatov, russischer Journalist
Andrej Soldatow ist Autor mehrerer Bücher über die russischen GeheimdiensteBild: DW/Nikita Jolkver

Einig sind sich alle Experten aber auch darin, dass Minsk niemals einen hybriden Krieg gegen die EU und die NATO ohne Moskaus Zustimmung entfesselt hätte. Pavel Havlicek zufolge bleibt den belarussischen Geheimdiensten seit Beginn der Operation auch keine andere Wahl, als mit Russland zu kooperieren: "Russland und Belarus haben einen gemeinsamen Luftraum, ein gemeinsames Luftverteidigungssystem und faktisch auch einen gemeinsamen Grenzschutz. Moskau wird den Belarussen nicht erlauben, ohne seine Zustimmung vorzugehen." Laut Andrej Soldatow müssen Lukaschenkos Leute nicht einmal gesondert Informationen anfordern, denn im Rahmen gemeinsamer Aktionen zum Schutz der Grenze bestehe ein ständiger Datenaustausch.

Was sind Putins Ziele und Lukaschenkos Aufgaben?

Aus der Sicht von Arkady Moshes versucht Putin mit der Krise nicht nur den Westen daran zu erinnern, dass Russland gebraucht wird, wenn es um die Länder des sogenannten postsowjetischen Raums geht. Er wolle auch dem heimischen Publikum und den "Russlandverstehern" in Europa eine schwache EU vor Augen führen, die unfähig sei, das Migrationsproblem zu lösen: "Wenn man die Migranten nicht reinlässt, dann ist man grausam und heuchlerisch und missachtet die eigenen humanitären Prinzipien. Und wenn man sie reinlässt, dann ist man ein Schwächling."

Pavel Havlicek meint, Lukaschenko verfolge mehrere Ziele. Erstens wolle er Verhandlungen mit dem Westen über die Beendigung der jetzigen Krise erreichen. Denn auch wenn es informelle Verhandlungen sind, verschafften sie ihm die Legitimität, die ihm die EU und die USA verweigern. Zweitens wolle er die innere Isolation von Belarus verstärken, die Auswanderung von Belarussen stoppen und die Gesellschaft unter totale Kontrolle bringen.

Keir Giles - Experte bei Chatham House
Keir Giles, Strategieberater am "Royal Institute of International Affairs"Bild: Privat

Keir Giles, Strategieberater am "Royal Institute of International Affairs" in London, findet hingegen, dass unklar sei, welche eigentlichen Ziele Minsk und insbesondere Moskau mit der seit Monaten andauernden Eskalation erreichen wollen. "Klar ist, dass dies eine Form der Erpressung ist. Aber wenn ein Erpresser nicht sagt, was er genau will, kann man mit ihm nicht verhandeln", so Giles. Im Unterschied zu vielen Politikern und Aktivisten, die Angela Merkel für ihren Anruf bei Putin verurteilt hätten, findet es Giles richtig, in einer Situation, in der die EU Sanktionen gegen Belarus vorbereitet, herauszufinden, was Putin wirklich wolle. "Dies ist klug, auch wenn der Preis darin besteht, sich dem ewigen Wunsch des Kremls nach Wichtigtuerei hinzugeben."

Kommen EU-Sanktionen auch gegen Aeroflot?

In der aktuellen Situation müsse die EU hart handeln, glaubt Arkady Moshes: "Die beste Lösung wäre, Migranten, die von Lukaschenko über die Grenze gedrängt werden, kategorisch abzulehnen. Sie kommen legal, mit Visa, einzeln oder als Gruppe nach Belarus, was offiziell ein friedliches Land ist, wo es weder Krieg noch Katastrophen gibt und ausreichendes wirtschaftliches Potenzial herrscht. Dann können sie dort um Asyl bitten. Wenn die Menschen nur nach Deutschland oder Schweden wollen, dann sind sie keine Flüchtlinge mehr."

Pavel Hawlichek - Experte der AMO Research Center
Pavel Havlicek von der Prager "Association for International Affairs"Bild: AMO

Pavel Havlicek ist anderer Meinung: "Die EU darf nicht grausam erscheinen und die Flüchtlinge einfach über die Grenze zurück in Lukaschenkos Arme treiben. Das würde den europäischen Prinzipien der Humanität widersprechen. Außerdem lassen die Belarussen sie nicht zurück. Aber wir können natürlich nicht einfach unsere Tore öffnen."

Sowohl Moshes, Havlicek als auch Keir Giles glauben, dass die Sanktionen hart sein sollten. Man sollte, so Havlicek, dabei aber nicht nur das Regime in Minsk, sondern auch die russischen Interessen im Blick haben: "Natürlich sollten die laufenden Lieferungen belarussischer Kalidüngemittel an die EU sofort gestoppt werden. Aber man darf nicht die russischen Unternehmen vergessen, die in belarussische Firmen investieren. Auch gegen sie müssen wir Sanktionen in Betracht ziehen."

Giles zufolge sollten die Sanktionen Einzelpersonen und Unternehmen treffen, an die die EU "herankommt": "Die Drohung der EU irische Firmen zu sanktionieren, die Flugzeuge für (die belarussische Fluggesellschaft) Belavia leasen, hat funktioniert. Das Unternehmen hatte angekündigt, die Beförderung von jemenitischen, syrischen und irakischen Bürgern aus der Türkei einzustellen. Allein die Andeutung von Sanktionen mit schneller und direkter Wirkung hat funktioniert." Giles glaubt zwar nicht, dass die EU es wagen würde, Flüge der russischen Aeroflot zu verbieten, doch selbst die Androhung dessen wäre ein Schritt in die richtige Richtung.

"Das Neue und Unerwartete in dieser Krise ist, dass die EU eine einheitliche Position vertritt und vorbehaltlos solidarisch mit Polen, Litauen und Lettland ist, und das trotz beispielsweise des Streits mit Warschau um die Justizreform. Die ist eine Überraschung für diejenigen, die die Brüsseler Politik schon lange beobachten, und ich glaube auch für Putin und Lukaschenko", so Giles.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk