Kazuo Ishiguro: Stiller Meister der Seelenerforschung
5. Oktober 2017Es war eine Überraschung wie fast jedes Jahr, als Sara Danius, ständige Sekretärin des Nobelpreiskomitees, die Wahl des Literaturnobelpreisträgers 2017 bekannt gab: Ausgezeichnet wird der britische Autor Kazuo Ishiguro, "der in Romanen von starker emotionaler Wirkung den Abgrund von unserer vermeintlichen Verbundenheit mit der Welt bloßgelegt hat". Ihn hatten die Wettbüros nicht auf der Liste der Favoriten.
"Wenn man Jane Austen mit Franz Kafka mischt, dann erhält man Kazuo Ishiguro - sofern man noch ein bisschen Proust hinzufügt", charakterisierte Sara Danius im anschließenden Interview das Werk des diesjährigen Preisträgers. Der Autor zeichne sich durch große Integrität aus, er sei versiert in verschiedenen Genres und habe ein ausgeprägtes Interesse an der Vergangenheit. Nicht im Proust'schen Sinne des Rückblickens und Nachspürens, sondern er halte lebendig, was man vielleicht vergessen wolle.
Britischer Bestsellerautor japanischer Herkunft
Kazuo Ishiguro lebt seit seinem sechsten Lebensjahr in England. Er wuchs in der Nähe von London auf - ganz generationsgemäß mit dem Swing der britischen Siebzigerjahre. Popmusiker wollte er werden, er trat als Gitarrist in Clubs und Pubs auf, trampte durch die USA und Kanada. Sein ursprüngliches Heimatland Japan, wo er 1954 in Nagasaki zur Welt gekommen war, besuchte er erst wieder im Alter von 35 Jahren.
Ishiguro studierte an der Universität von Kent Anglistik und Philosophie und machte 1980 an der University of East Anglia seinen Master im Kreativen Schreiben. Aus dieser Zeit stammen seine frühesten literarischen Versuche, drei Kurzgeschichten, die 1981 in einer Anthologie von Erzählungen neuer Autoren veröffentlicht wurden. Sein Romandebüt "A Pale View of Hills" kam 1982 auf den Markt, die deutsche Übersetzung "Damals in Nagasaki" zwei Jahre später. Es dauerte bis 1983, ehe sich Ishiguro ganz dem Schreiben widmete und seinen Hauptberuf als Sozialarbeiter für Obdachlose und Sozialhilfeempfänger aufgab.
Ein schmales, aber äußerst erfolgreiches Werk
Das Gesamtwerk des jetzt mit dem Nobelpreis geehrten Autors ist vergleichsweise schmal. Sieben Romane und einen Band mit Erzählungen kann er vorweisen. Doch schon sein erstes Buch, das im Japan der Nachkriegsjahre spielt, machte ihn schlagartig bekannt. Auch sein vier Jahre nach "Damals in Nagasaki" erschienener zweiter Roman "An Artist of the Floating World", deutsch "Der Maler der fließenden Welt", war in Großbritannien ein Bestseller, der mit dem Whitbread Award ausgezeichnet wurde. Insgesamt wurde sein Werk bis jetzt in 42 Sprachen übersetzt. In den USA allerdings verkauften sich seine Bücher schlecht.
Das änderte sich mit dem Roman, der noch heute als Ishiguros Hauptwerk angesehen wird. "The Remains of the Day" (1989), deutsch "Was vom Tage übrig blieb", katapultierte ihn in die Liga der erfolgreichsten britischen Autoren. Der kurze Roman wurde allein auf Englisch über eine Million Mal verkauft, mit dem Booker Prize bedacht und 1993 von James Ivory mit Anthony Hopkins und Emma Thompson in den Hauptrollen verfilmt. Es ist die Geschichte eines Butlers im England der Vor- und Nachkriegszeit, der immer nur den antrainierten Regeln gehorcht und darüber das Leben verpasst.
Schicksalsergebenheit und die Frage nach Werten
Der Roman behandelt ein Grundthema Ishiguros, das sich in allen seinen Werken wiederfinden lässt: Gibt es menschliche Werte, die dem Wandel der Zeit trotzen, sich nicht ändern sollten? Und was passiert, wenn die Zeiten sich wandeln und die gesellschaftlichen Werte andere geworden sind? "Wie viel Vergessen ist wünschenswert? Und wie viel Erinnern?", fragte Ishiguro 2015 im Interview mit der Deutschen Welle. Darauf, wie man diese Balance findet, gebe es keine einfache Antwort. Was macht die Menschen zu ergebenen Dienern und Untertanen, was lässt ihn, vielleicht mit besten Absichten, Grausamkeiten begehen?
Verfilmt wurde 2010 auch der Roman "Never Let Me Go" (2005), deutsch "Alles, was wir geben mussten", eine dezent dystopische Science-Fiction-Fantasie. Heranfliegende Erinnerungen an ein Waisenhaus in der Nähe der südenglischen Küste bilden den Kern des Geheimnisses, das die Hauptfigur Kathy umhüllt. Ihre stille Schicksalsergebenheit ist die eigentliche Frage im Zentrum des Romans, ein rätselhaftes Problem, ähnlich wie schon im Roman "Was vom Tage übrig blieb".
"Ein absolut brillanter Schriftsteller"
Sara Danius' persönliches Lieblingsbuch, so bekannte sie im Interview, ist Ishiguros letzter Roman von 2015, "The Buried Giant", deutsch "Der begrabene Riese". Er spielt in einem halb-mythischen England der Eisenzeit (um 600 n. Chr.), ein Buch zwischen Fantasy und historischem Thesenroman. Auch dieser Roman zeichnet sich durch den feinen Ton aus, der alle Bücher Ishiguros prägt. Still und gleichzeitig verstörend ist dieser Stil, die Figuren sind behutsam gezeichnet, der Erzähler tritt nie laut hervor. Trotzdem gelingt es Ishiguro, die Alpträume einer vergangenen oder einer denkbaren zukünftigen Gesellschaft in sehr aktuelle Fiktion zu verwandeln.
"Was vom Tage übrig blieb" beginne wie ein fröhlicher P. G. Wodhouse-Roman und ende als kafkaeske Parabel, fasste die Sprecherin des Nobelkomitees zusammen. Sie hofft, dass die diesjährige Wahl eines "absolut brillanten Romanciers" die Welt glücklicher mache.
Lob von Salman Rushdie und Joyce Carol Oates
Schriftsteller-Kollege Salman Rushdie war einer der ersten Gratulanten: "Viele Glückwünsche an meinen alten Freund Ish, dessen Arbeit ich liebe und bewundere, seit ich 'Damals in Nagasaki' das erste Mal gelesen habe", sagte er der britischen Tageszeitung "The Guardian". "Und er spielt Gitarre, schreibt Lieder und singt! Mach Platz, Bob Dylan."
Seine US-amerikanische Kollegin Joyce Carol Oates schrieb auf Twitter: "Ishiguro hat es wirklich verdient. Wunderschön melancholisches Werk. Mein Favorit ist 'Alles, was wir geben mussten'."
Der ausgezeichnete Autor selber zeigte sich "völlig verblüfft und geschmeichelt" über diese "großartige Ehre", die es ihm bedeute, in die Fußstapfen der besten Schriftsteller der Welt zu treten. Er habe die Nachricht von seinem Literaturnobelpreis zunächst für einen Scherz gehalten und vor der Bekanntgabe keinen Kontakt zum Nobelkomitee gehabt, sagte er der BBC. Er hoffe, dass der Preis etwas Gutes bewirken könne: "Die Welt befindet sich in einem sehr unsicheren Augenblick. Ich hoffe, dass alle Nobelpreise eine positive Kraft entfalten können. Es würde mich zutiefst berühren, wenn ich in diesem Jahr auf irgendeine Weise zu einem Klima beitragen könnte, das in einer unsicheren Zeit die Atmosphäre verbessert."