Litauens kleine Sowjetunion
22. Mai 2014Gepöbelt wird in Visaginas meist am Montag, von 14 bis 16 Uhr, mit Voranmeldung. Dann ist Sprechstunde bei Bürgermeisterin Dalia Štraupaitė. Ruhig hört sie sich alle großen und kleinen Sorgen an, nur manchmal wird es ihr zu bunt. "Wenn sich einer nur beschwert, wie schrecklich alles ist, dass es zum Beispiel keine Jobs mehr im Atomkraftwerk gibt und so weiter, dann sage ich: 'Geh doch, geh zurück nach Russland!'" Štraupaitė lacht. Hinter ihr glitzert eine Armada gläserner Briefbeschwerer mit dem Stadtwappen, einem Kranich, im Regal steht ein kleines Atommodell. "Aber das wollen die Leute dann auch nicht."
Der flapsige Ton gehört dazu, hier am Ende von Litauen, ganz im nordöstlichsten Zipfel des Landes: 43 verschiedene Ethnien lebten friedlich miteinander in der Stadt, sagt die Bürgermeisterin stolz: „Visaginas kann ein Vorbild sein für das gute Zusammensein von verschiedenen Völkern.“ Wer zwischen Kiefern und sowjetischen Plattenbauten entlang spaziert, hört kaum Lärm, kaum Autos. Stattdessen zwitschern die Vögel um die Wette und Fuchs und Hase sagen sich abends bestimmt gute Nacht. Oder eben: Russin und Ukrainer. Tartar und Polin. Weißrusse und Litauer. In Visaginas ist so viel Ruhe, dass es einem fast unheimlich scheint.
Sowjetisch-multikulturell vom Grundstein an
Als die Stadt 1975 gebaut wurde, war der Plan: Sie soll blühen, wachsen, aufsteigen. Junge Ingenieure aus der ganzen Sowjetunion zogen in die Siedlung, um das nahegelegene AKW Ignalina aufzubauen, das dann das Baltikum und Weißrussland mit Strom versorgte. „Mich hat man vor 32 Jahren nach dem Studium hierher geschickt. Alle, die kamen, hatten ein gemeinsames Ziel - das schweißt zusammen“, erzählt der 58-jährige Sergej, ein Russe.
Wer hier lebte, sprach russisch - das hat sich bis heute nicht geändert. Zwar sind inzwischen fast alle zweisprachig, aber Visaginas bleibt die einzige Stadt in Litauen mit einer eigentlich russischsprachigen Mehrheit. In den Nachbarländern Estland und Lettland wäre das Grund zur Sorge: Hier ist die russische Minderheit bis heute stark, macht 30 Prozent der Bevölkerung aus. Und viele fürchten, dass Russlands Präsident Putin seinen Landsleuten "zu Hilfe eilen" würde, wie er es auf der Krim tat.
In Visaginas würde er diese Landsleute vergebens suchen. „Ich fühle mich hier zwar als Russe, aber wenn ich in Russland bin, merke ich: Die Mentalität ist doch eine andere“, sagt Sergej. Er ist, wie fast alle der etwa 22.000 Einwohner, litauischer Staatsbürger. Nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion bürgerte Litauen alle Menschen ein, die es wollten und schon seit Jahren im Land lebten - ganz ohne Sprach- oder Wissenstest. In den Nachbarländern Estland und Lettland lief das anders. Hier sind viele ethnische Russen bis heute staatenlos.
Zwietracht wächst hier nicht
"Aber was soll ich denn in Russland?" Jevgenija Masliakova, Weißrussin, steht auf dem Friedhof am Stadtrand von Visaginas an einem Grab und zupft Unkraut. "Hier ist es schöner - und die Renten sind nicht so niedrig", sagt sie und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Neben ihr auf einer Bank im Schatten sitzt Oleg Račkovskij, Pole, zieht zwischen erdigen Fingern an einer dünnen selbstgerollten Zigarette und nickt bedächtig mit dem Kopf. "So was wie in der Ukraine soll hier nicht passieren", sagt er in einem Mix aus Russisch und Litauisch. "Wird's auch nicht. Ich habe öfter Streit zuhause mit meiner Frau als mit anderen Minderheiten." Das russische Vorgehen auf der Krim findet er trotzdem richtig. Schließlich gehöre sie historisch zu Russland.
Wenn in der Stadt über etwas gestritten wird, dann darüber. Ein bisschen zumindest: "Bei uns gibt es keine Konflikte, auch wenn man mal unterschiedlicher Meinung ist", sagt Svetlana Čertkova, Ukrainerin. Zwar gebe es unter ihren Freunden Putin-Unterstützer. "Aber deswegen streiten wir doch nicht wirklich. Schließlich kennt jeder jeden. Mit dem einen tanzt du, mit dem anderen singst du, von wieder einem anderen bist der Nachbar und mit dem vierten arbeitest du zusammen." So sieht es auch Larisa Podberiozkina, Russin. So sieht es Rita Stanionienė, Litauerin. Und so sieht es jede und jeder andere, die man fragt.
Als die TV-Sender weg waren, gab's Ärger
Nur einmal wurden die Visaginer im Zuge der Ukraine-Krise laut, haben sogar einen Protestbrief an die litauische Regierung verfasst: Im März veranlasste ein Gericht, dass die Kabelübertragung dreier russischer TV-Kanäle abgeschaltet werden soll. Das Argument: Sie verbreiteten Propaganda. „Wir sind doch kluge Leute und können selbst entscheiden, was richtig und was falsch ist“, sagt Rita Stanionienė, die Litauerin.
Doch die Sender bleiben fürs Erste schwarz. Bei der ersten Runde der Präsidentenwahl vor knapp zwei Wochen haben die Visaginer dann nicht für Amtsinhaberin Dalia Grybauskaitė gestimmt, sondern für den polnischstämmigen Kandidaten Waldemar Tomaszewski - ein Affront für viele Litauer, denn das Verhältnis zur polnischen Minderheit im Land ist schwierig. Und sie haben sich Satellitenschüsseln gekauft in Visaginas, um weiterhin russisches Fernsehen zu empfangen.
Ein bisschen Hoffnung bleibt
Die wirklich Unzufriedenen seien eh schon lange weg, heißt in der Stadt. "Und die gebildeten Akademiker sind dorthin gegangen, wo es noch Atomkraft gibt", sagt Bürgermeisterin Dalia Štraupaitė. Denn inzwischen wird das AKW Ignalina abgewickelt. 2009 wurde der zweite Reaktor vom Netz genommen. Die Schließung des Werks war Bedingung für den EU-Beitritt Litauens.
Dadurch hat etwa die Hälfte der Beschäftigten - gut 2000 Menschen - ihren Job verloren. Und die Stadt einen Teil des Reichtums, der auch für Ruhe sorgt. Aber was wäre Visaginas, wenn sie nicht doch ein bisschen Hoffnung hätten: Litauen überlegt seit Jahren, ein neues Atomkraftwerk zu bauen. 82 Prozent der Visaginer waren bei einer landesweiten Abstimmung dafür. Denn bei ihrer multikulturellen Musterstadt soll niemand so schnell den Stecker ziehen.