Das TV-Gewissen der Nation
8. Dezember 2010Jede Fernsehnation bekommt die Dauerserie, die sie verdient. Und bei den leidenswilligen Deutschen ist das "Die Lindenstraße". Nirgendwo sonst wird auf der Mattscheibe so schön und ausgiebig gelitten wie hier. Die Bilanz des deutschen TV-Dauerbrenners, den sein Erfinder Hans W. Geißendörfer nach dem Vorbild des britischen Endlos-Formats Coronation Street entwickelt hat, ist nach 25 Jahren knallhart: 43 Todesfälle stehen in der Lindenstraße 27 Hochzeiten gegenüber. Hinzu kamen mehrere Mordfälle, Selbstmorde und viele Krankheiten - von Aids bis Alzheimer, von Depression bis Down-Syndrom, von Krebs bis zur Tollwut.
Eine Via Dolorosa der Gebeutelten
Nicht von ungefähr verspottete die Satire-Kolumne eines regionalen, westdeutschen Radiosenders die Lindenstraße jahrelang als "Straße der Gebeutelten". Schon die Jubiläumsberichte zum zehnten Geburtstag lasen sich wie "ein Horrorfilm", wie sich Schauspielerin Sybille Waury grinsend erinnert. Sie ist seit der zweiten Folge am 15. Dezember 1985 als "Tanja Schildknecht" dabei. "Es gibt in der Lindenstraße zwar auch Hochzeiten und Geburten", sagt sie, "aber jede Katastrophe wird hier gern genommen. Darum bringt jede Hochzeit schnell ein Problem mit sich und jede Geburt oft Komplikationen."
Wie die meisten Lindenstraßen-Bewohner hat auch Waurys Serienfigur Tanja eine höchst traumatische Vergangenheit. Zu Anfang zum Tennis-Wunderkind getrimmt, musste Tanja den Selbstmord der Mutter, das Krebsleiden der jüngeren Schwester und schließlich auch noch den Erfrierungstod ihres Alkoholiker-Vaters überstehen. Danach verdingte sie sich beim Escort-Service "Happy Hours", bevor sie den an den Rollstuhl gefesselten Doktor Dressler heiratete. Doch auch Tanjas Eheglück zerbrach, weil sie plötzlich lesbisch wurde. Sind so viele Schicksalsschläge typisch deutsch?! Sybille Waury lacht auf die Frage beim Rundgang über das Studiogelände des Westdeutschen Rundfunks in Köln-Bocklemünd, wo die "Lindenstraße" produziert wird. Sie räumt ein: "Tanjas Leben ist schon dramatischer gehalten als die Wirklichkeit, aber als Schauspielerin freue ich mich natürlich über jede neue Katastrophe und bin froh, dass meine Figur nun nicht mehr dauernd nur nett mit Doktor Dressler beim Mittagessen sitzt."
Erster AIDS-Toter, erster Schwulenkuss
Die vielen Familientragödien dienen in der "Lindenstraße" aber nicht nur der Unterhaltung. Sie sollen den Zuschauer moralisch wachrütteln. "Wenn man filmt, muss man eine Botschaft haben", bekannte Regisseur Geißendörfer soeben in einer großen Programmzeitschrift. Der Übervater der Serie macht keinen Hehl aus seiner linkspolitischen Alt-68er-Mission. Und die Episoden seines unverwüstlichen TV-Epos greifen ganz bewusst aktuelle Konfliktthemen auf, über die sich die Nation erregt: von Atomkraft bis Aids, von Terrorismus bis Fremdenfeindlichkeit, von Hartz IV bis Gen-Technik. Dabei steht Helga "Mutter" Beimer (Marie-Luise Marjan), die bekannteste Darstellerin der Lindenstraße, stets an vorderster Front, wenn es um den Kampf für die politisch korrekte Sache geht. So hat Mutter Beimer in den letzten Serienfolgen etwa gerade erst erfolgreich gegen den zwielichtigen Hausbesitzer Phil Seegers (Marcus Off) erwirkt, dass zwei Stolpersteine vor ihrer Haustür zum Gedenken an den Holocaust verlegt wurden. Aufsehenerregend oder sogar skandalträchtig aber sind solche Aktionen schon lange nicht mehr.
Die Fronten verwischen
Das war vor zwanzig Jahren noch ganz anders, als die Lindenstraße als erste deutsche Familienserie einen AIDS-Toten und zwei sich küssende Homosexuelle zeigte. Szenen, die damals für Furore sorgten. Heute hingegen weckt das Geißendörfer Projekt wohl eher Nostalgie-Gefühle als Empörung angesichts einer Gesellschaft, die kaum noch Tabugrenzen kennt. Bestenfalls die FDP beschwert sich heute noch über die Lindenstraße, weil ein Lindenstraßen-Bewohner in einer Januarfolge der Partei Klientelpolitik vorwarf.
Insgesamt jedoch ist es ruhig geworden um Deutschlands Familienserie mit dem sozialkritischen Anspruch. Denn die ideologischen Gut-Böse-Fronten, die hier tröstlich beschworen werden, verwischen in der postmodernen Gegenwart immer mehr. "Eigentlich orientiert sich die Lindenstraße an der heilen Welt der 70er Jahre mit ihrem sozialdemokratischen Glauben an Ausgleich und soziale Gerechtigkeit", stellt der Medienwissenschaftler und Leiter des Grimme-Instituts Dr. Ulrich Spies fest. Vielleicht es also mit dem Wandel der deutschen Gesellschaft zu tun, dass auch die Fans der Lindenstraße weniger werden: statt in den Hochzeiten um die zehn Millionen schalten mittlerweile im Durchschnitt nur noch 3,5 Millionen Zuschauer allwöchentlich ein.
Autorin: Gisa Funck
Redaktion: Marlis Schaum