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"Lieber sterben als zurück"

Sven Pöhle23. Juli 2015

Als Kapitän der "Sea Watch" half Ingo Werth bei der Rettung Hunderter Flüchtlinge im Mittelmeer. Im DW-Interview schildert er persönliche Eindrücke der Rettungsmission - und feuert eine Breitseite in Richtung Politik.

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Das Rettungsschiff Sea Watch im Einsatz für Flüchtlinge im Mittelmeer (Foto: Sea Watch)
Bild: Sea Watch

Deutsche Welle: Herr Werth, die "Sea Watch" war im Mittelmeer auf Seenot-Rettungsmission für Flüchtlinge. Sie waren der Kapitän des Schiffes. Was hat sie dazu bewogen, bei der Mission mitzumachen?

Ingo Werth: Ich habe von dieser Initiative erfahren und es war für mich sofort klar, dass das genau meine Form von Solidarität mit Geflohenen ist. Ich betreue seit längerer Zeit westafrikanische junge Männer hier bei uns in Hamburg. Wir dürfen nicht vergessen: Wir leben hier auf der Sonnenseite des Planeten. Das ist etwas, das wir uns in keinster Weise verdient haben, sondern etwas, das uns durch Zufall zuteil geworden ist. Ich denke, dass wir eine große Verpflichtung haben, von dem, was wir hier an Reichtum angehäuft haben - gerade auch auf Kosten der Menschen in Afrika - ein Stück zurückzugeben. Und sei es dadurch, dass wir ihnen beim Überleben helfen.

Vergangenen Mittwoch ist die "Sea Watch" nach mehreren Tagen vor der libyschen Küste wieder in den Hafen von Lampedusa zurückgekehrt. Was ist ihr Fazit des Einsatzes?

Das klingt vielleicht ein bisschen großspurig, aber es ist uns kein Fehler unterlaufen. Es war ja für uns Neuland. Niemand von uns ist bisher jemals herausgefahren und hat Flüchtlingsboote gesucht und abgeborgen. Wir haben unter dem Strich fast 600 Menschen vor dem Ertrinken bewahrt. Und wenn ich sage, keinen Fehler gemacht, dann heißt das, es ist kein Mensch zu Schaden gekommen. Weder ist ein Geflohener beim Abbergen der Boote oder beim Verbringen auf andere Schiffe verletzt worden, noch ist jemand ertrunken, was unsere größte Angst war. Und auch von unserer eigenen Crew ist niemand zu Schaden gekommen. Von daher kann ich sagen: Wir haben fehlerlos gearbeitet und das ist eine ganz große Befriedigung.

Ingo Werth, Kapitän des Rettungsschiffs Sea Watch (Foto: Sea Watch)
Ingo Werth an Bord der "Sea Watch"Bild: Sea Watch

Wie genau sind Sie und ihre Crew vorgegangen?

Wir sind vor den libyschen Hoheitsgewässern gekreuzt. Wenn wir ein Boot gefunden haben, das in akuter Seenot war - das war bei vier von sechs Booten der Fall - haben wir es gesichert. Bei zwei Booten lief das Wasser über den Heckspiegel - das ist die Stelle, an der der Motor befestigt ist - in das Innere des Schiffes hinein. Bei zwei weiteren Booten waren Luftkammern geplatzt. Von den Booten haben wir dann die Menschen auf unsere Rettungsinseln geholt.

Was haben Ihnen die Flüchtlinge erzählt, warum sie die gefährliche Fahrt auf sich genommen haben?

Das sind Menschen, denen das Risiko voll bewusst ist, das sie eingehen, wenn sie ein solches Boot besteigen. Die Menschen sind voller Hoffnung auf das Überleben und ein Leben in Würde: Ohne Hunger, ohne Krieg, ohne Leid. Sie wissen, dass sie eine 50:50-Chance haben, diese Fahrt zu überleben. Die meisten Menschen an Bord können nicht schwimmen und kaum einer hat eine Rettungsweste. Aber auf Nachfrage sagen die Menschen: Wir haben uns bewusst dazu entschieden. Die Chance, zu Hause zu überleben, schätzen wir mit 20 zu 80 ein. Es ist also ein ganz simples Rechenspiel, warum wir auf diese Boote gegangen sind.

Wie sehen die Boote der Flüchtlinge aus?

Es handelt sich um Boote einfachster Art, die so derartig überladen sind, dass sie gar keine Chance haben, dorthin zu kommen, wo die Triton-Schiffe kreuzen (Anm. d. Red.: Mission der europäischen Agentur Frontex, die im Auftrag der EU die Grenze Italiens sichern soll). Also 30 Meilen vor der italienischen Küste. Da kommt von diesen einfachen Booten keines an - da gebe ich Ihnen Brief und Siegel.

Wenn Sie die Tage vor der libyschen Küste Revue passieren lassen, was hat Sie am meisten bewegt?

Wir sind auf ein Boot mit 110 Personen zugefahren und die Besatzung dieses Bootes hatte Angst, dass wir Libyer seien. Sie hatten die Orientierung verloren und wussten nicht, ob sie die libyschen Hoheitsgewässer schon verlassen hatten. Und diese Menschen haben gesagt: Bevor ihr uns nach Libyen zurückbringt, wollen wir lieber hier und jetzt auf dem Mittelmeer sterben.

Was sollten EU und auch die Bundesregierung Ihrer Ansicht nach unternehmen, um das Sterben der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer zu beenden?

Mein Appell ist, das, was an Worten ausgesprochen ist, in Taten umzusetzen. Mein Appell ist, zu gucken, wo die Flüchtlingsströme sind. Dort müssen die Schiffe hingeschickt werden. Dort dürfen nicht nur Kriegsschiffe kreuzen, dort müssen Beiboote ausgesetzt werden. Und dort müssen in Seenot geratene Boote gesucht, gefunden und abgeborgen werden.

Wenn man es ernst meint mit der Suche, wenn man nicht sagt, "jeder ertrunkene Flüchtling ist ein guter Flüchtling", wenn man es ernst meint, dass man sich davon distanziert, dann muss man dahin gehen, wo die Boote in Seenot geraten. Und das ist an der 24-Meilen-Zone, zum Beispiel im libyschen Meer oder in Gibraltar oder an der türkisch-griechischen Grenze.

Der Hamburger Ingo Werth war als Kapitän der "Sea Watch" an der Rettung von Flüchtlingen vor der libyschen Küste beteiligt. "Sea Watch - Engagement für Geflüchtete, Seenotrettung im Mittelmeer" ist eine ehrenamtliche Initiative. Die Kosten für das Projekt und der Kauf des Schiffes wurden aus privaten Mitteln und durch Spendengelder finanziert.

Das Interview führte Sven Pöhle.