Lieber ausgebrannt als depressiv
23. März 2010Die Arbeitswelt ist härter geworden: Mehr Multitasking, mehr befristete Arbeitsverhältnisse, stärkerer Zeitdruck. Das bleibt nicht ohne Folgen. In den letzten 20 Jahren hat sich die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen verdoppelt. "Elf Prozent der Fehltage gehen inzwischen auf psychische Erkrankungen zurück", sagt Rainer Richter, Präsident der Bundes-Psychotherapeuten-Kammer (BPtK). Seine Kammer hat eine Studie über psychische Belastungen in der Arbeitswelt aus Daten der gesetzlichen Krankenkassen und mehreren früheren Untersuchungen zusammengestellt. "Gerade im Dienstleistungssektor sehen wir, wie die moderne Arbeitswelt psychisch krank macht." Meistens sind es Depressionen und besonders betroffen sind Telefonisten, vermerkt die Studie.
Wenn Richter über die psychischen Belastungen spricht, denen Mitarbeiter von Call-Centern und Zeitarbeitsfirmen ausgesetzt sind, hat man leicht den Eindruck, er spricht von einer Arbeitswelt aus Zeiten der Industrialisierung: Fremdbestimmung, wenig Möglichkeiten sich einzubringen, starker Konkurrenzdruck und geringe Sicherheiten. Diese Faktoren erhöhen der BPtK zufolge das Risiko depressiv zu werden.
Und auch Dumpinglöhne machen krank: "Studien zeigen eine Häufung psychosomatischer Beschwerden, wenn der berufliche Einsatz in keinem Verhältnis zum Lohn und zur sozialen Anerkennung steht."
Steigende Kosten durch Krankschreibungen
Die Ausfälle durch psychische Erkrankungen sind hoch. "Nur für Depression geben wir pro Jahr 4,3 Milliarden Euro direkte Behandlungskosten aus", hat Richters Kammer errechnet. Dabei sind noch nicht einmal die Kosten für Arbeitsunfähigkeit und das Krankengeld enthalten - geschweige denn der volkswirtschaftliche Schaden. Der dürfte beträchtlich sein, denn psychisch Erkrankte fallen meist relativ lange aus - im Durchschnitt für drei Wochen.
Bevor aber aus der Untersuchung der BPtK ein Horrorszenario einer sich rapide irrearbeitenden deutschen Dienstleistungsgesellschaft entsteht, relativiert Richter seine Zahlen etwas. "Psychische Erkrankungen sind jahrzehntelang übersehen oder nicht richtig diagnostiziert worden", sagt der Kammerpräsident. "Da hat man hinter den Magenschmerzen nicht die wahre Ursache gesehen." Die Ärzte tippen jetzt schneller auf ein Seelenleiden. Es scheint inzwischen auch weniger verpönt zu sein, sich selbst oder anderen eine psychische Erkrankung einzugestehen. Das Stigma sei jedoch keineswegs überwunden. "Die Leute lassen sich lieber wegen eines Burn-outs krankschreiben, als wegen einer psychischen Erkrankung", sagt Richter und betont: "Wir haben aber deutliche Hinweise darauf, dass die tatsächliche Anzahl von Erkrankten zugenommen hat."
Umgestaltung der Arbeitswelt
Richter zieht aus der Studie seines Verbandes Schlüsse, wie dem Problem der psychischen Belastungen durch die Arbeitswelt zu begegnen sei. Wenn eine Depression einmal diagnostiziert wird rät Richter - nahe liegend für den Präsidenten der Bundes-Psychotherapeuten-Kammer - zu einer Psychotherapie: "Das ist in vielen Fällen die wirksamste Behandlungsoption."
Doch Richter will auch, dass sich etwas bei den Arbeitsbedingungen in der Dienstleistungsbranche tut. Da gebe es Nachholbedarf. "Die Erkenntnisse zur humanen Arbeitsgestaltung, die früher in der industriellen Massenfertigung erarbeitet worden sind und dort berücksichtigt werden, sind im Dienstleistungssektor bisher nur unzureichend angekommen." Der Einzelne solle die Kontrolle über seine Arbeitsabläufe zurückgewinnen.
"Bis es soweit ist, rät Richter den Betrieben dazu, die Mitarbeiter mit speziellen Trainings psychisch belastbarer zu machen.
Krankheitsfaktor Arbeit
Aber warum überhaupt nehmen die Psychotherapeuten die Arbeitswelt jetzt so vehement ins Visier? Es gibt ja im Leben noch mehr als Arbeit und damit auch vieles mehr, was uns psychisch krank machen kann - wie Partnerprobleme, genetische Veranlagung, oder persönliche Verluste. "Sicher ist Arbeit nur ein Faktor von vielen", sagt Therapeutenpräsident Richter, "aber ich glaube, dass wir ihren Einfluss der Menschen in den letzten 50 Jahren ziemlich vernachlässigt haben." Arbeit spielt eine wichtige Rolle, wenn es um seelische Ausgeglichenheit, soziale Kontakte, Struktur im Alltag und das Selbstwertgefühl geht. Stress am Arbeitsplatz kratzt daher schnell am psychischen Wohlbefinden. Noch schlimmer ist Arbeitslosigkeit. "Der Verlust von Arbeit ist deswegen immer zugleich eine Selbstwert- und Sinnkrise", stellt Richter fest. Die Chance als Arbeitsloser psychisch krank zu werden sei drei- bis vier Mal so hoch wie bei Menschen mit Beschäftigung.
Autor: Heiner Kiesel
Redaktion: Kay-Alexander Scholz